Don't bury! – Ja, verdammt!

Nach dem Exploit die Ernüchterung: Schuld und Sühne als Höhepunkt des Spielplans (zumindest von der Sparte Sprechtheater) der Saison 2009/10, und jetzt dies. Die gestrige Premiere war nicht schlecht, so viel vorne weg, leider auch nicht gut.

Sie war harmlos, und die Tiefenschärfe ging irgendwo zwischen den zahlreichen übergrossen Kartonklötzen, die in unterschiedlichster Anordnung das Bühnenbild (Max Wehberg) zeichneten, unter. Dies, obwohl die Bühnengestaltung den Abend trug, vielleicht aber auch begrub – um das in zweifacher Weise naheliegende Bild zu bedienen. Die grossen aus Karton gefertigten Kisten wurden anfangs en miniature eingeführt: Eine Greisin spielt auf der nackten Bühne mit KAPLA-Hölzchen, fertigt einen Turm und mit dem Zusammenbrechen desselbigen beginnt der erste Aufzug.

Und Bettina Riebsel setzt mit dem Erzählen der antiken Tragödie ein. Schnell – mit dem Erscheinen, besser mit unflätigem Intervenieren, der jungen Laienschauspieler – wird klar, dass das nun Folgende wohl nicht nach dem Gusto der traditionellen Bildungsbürgerin über die Bühne gehen wird. Dies jedoch wäre eine Chance! Ist es doch alles andere als abwegig, Antigone mit jungen, womöglich neckischen und unangepassten Laiendarstellern zu inszenieren; für diesen Schritt gebührt dem Theater Anerkennung. Auch für Luzern ist ein solcher Schritt mutig!

Aber (!), wieso um Himmelswillen müssen die Jungen oft herhalten, wenn es darum geht, eine Materie süffig und anbiedernd an die Frau zu bringen. Überspitzt gewendet kann man der Inszenierung (Andreas Herrmann) auch vorwerfen, dass sie das Scheitern am Stoff mit dem Einsatz der jungen Schauspieler als Fassade peppig kaschieren will. So wenig wie junge Menschen nur immer an ihr Handy und ihre Fremdwirkung denken (und leider werden sie bei «Don’t bury!» allzu oft auf diese Vorstellung reduziert), so wenig ist Antigone nur Rebellin und Uneinsichtige. Die neueren Rezeptionen tendieren allerdings in diese Richtung. Ismene wird in der Inszenierung verkannt, zu konturenlos und platt wirkt sie, obgleich sie als Schwester und gleichzeitige Antipode zu Antigone eine fruchtbare Reibungsfläche darstellt.

So wie die Klötze bei Beginn ihrer Gesamtheit entfliehen, so werden ihre grösseren Pendants im Laufe der Aufführung sinnstiftend zu immer neuen Gebilden zusammengeführt, fordern dementsprechend den jungen Schauspielern viel Aufmerksamkeit ab. Das Projekt – und als solches wird es nach offizieller Lesart ausgegeben – ist als Drei-Sparten-Unternehmen angelegt. Aber wie im richtigen Leben gibt es gewisse Türme, die Bestand haben müssen: Nicht alles lässt sich aufs Neue zusammensetzen. Kann sein, dass gerade darin der Wurm steckt: Da wurde vieles angerissen, aber nichts wirklich à fond durchdacht.

Es lässt sich dies nämlich auch als Allegorie auf die sich ständig wandelnden Rechtsordnungen deuten, denn wie im Theater bildet bzw. bilden sie den Rahmen des Handelns. Indem Antigone sich anmasst, gegen bestehendes Recht – den Anweisungen von Kreon – nicht Folge zu leisten, verdeutlicht sie, dass das Naturrecht und die Regeln der Gesellschaft nicht deckungsgleich sind, meint, die menschlichen Gesetze haben einer argumentativen Begründung standzuhalten. Heisst aber auch, die Gesetze fallen nicht vom Himmel und finden analog zum Heranwachsen in mühseligem Hin und Her ihr Wesen.

So wuschelt das Theater zwischen Rap, Chor, Choreographie und oberflächlichem Multikulturalismus vor sich hin, nutzt die üblichen Gemeinplätze von Jungen, verhöhnt streckenweise den mit grundlegendsten Sentenzen gespickten Klassiker. Dabei sind die Vertreter des Schauspielensembles unterfordert gelangweilt, während die Jungendlichen andauernd in die Hosen müssen, um die Klötze neu zu formieren. So ist denn nicht weiter verwunderlich, dass die Jungen sich mit dem Part begnügen dürfen, je ein paar Sätzchen zum Besten zu geben. Da hätte man die schauspielerische Potenz sicher noch mehr freilegen können, obwohl ehrlicherweise auch die von Marcel Leemann gesetzte Choreographie knifflig umzusetzen ist. Erfrischend mit welcher Verve die Heranwachsenden auf die Bühne treten. Ihnen gehört der Applaus!

Trotzdem, das mit 90 Minuten kurz bemessene Stück will zu keinem Ende kommen. Mit retardierenden, zirkulierenden und endlich definitiv im Kanon der Populärkultur gelandet (Zitate aus «Le Petit Prince» umrunden den Schwall), findet es dann in einem verkappten Schaulauf der jungen Darstellerinnen und Darsteller seinen Ausklang.

Sicher ist, dass die Arbeit am Projekt für alle Beteiligten eine Bereicherung war, aber aus der Sicht des Publikums ist es leider auch eine vertane Möglichkeit – schade für Sophokles' Antigone. Man hätte etwas tiefer graben müssen, um nicht so viel zu verdecken.

Bis 13. Juni, Luzerner Theater