Die Wahrheit ist nicht wahrhaftig

Box des Luzerner Theaters, 16.11.2017: «Der unzerbrochene Krug» baut in der Regie von Bram Jansen aus Kleists zerbrochenen Krugteilen («Der zerbrochene Krug») ein Kaleidoskop aus ambivalenten Szenen. Mittels Repetition und Verfremdung geht die Version des Luzerner Theaters der Wechselwirkung von Wahrheit und Lüge auf die Spur.

Die Strasse vor dem Theater überquerend, den Blick auf die gegenüberliegende Flussseite gerichtet, verschmelzen Laternen und Wasser zu glitzernden Zitterschatten. «Heute Abend ist sich anzutrinken wohl nicht ganz unangebracht», rät die Stimme des Dramaturgen Hannes Oppermann geheimnisvoll zur Eröffnung der Stückeinführung und bittet anschliessend in die Box. «Der unzerbrochene Krug», eine Inszenierung nach Bram Jansen, setzt da an, wo Heinrich von Kleists «Der zerbrochene Krug» aufhört und verstrickt sich alsbald in einen Dschungel aus unglaubwürdiger Wahrheit und glaubhafter Lüge.

Das erlöschende Licht unterbricht das Stimmengewirr im Saal. Auf der Bühne (Sophie Krayer) erleuchtet eine Leinwand, vor der ein Krug platziert ist. Videoeinspielungen (David Röthlisberger) diskutieren Kleists Lustspiel. Die gezeigten Menschen sind gleichzeitig Lesende des Klassikers und Dorfbewohner desselben. Sie scheinen sich über die Schuld des Dorfrichters Adam (Christian Baus) einig und suchen dennoch nach wahrhaftiger Gewissheit. Man ist sich der Wechselwirkung zwischen Wirklichkeit und Lüge bewusst.

Der Krug zerbricht. Das Spiel wechselt vom Film auf die Bühne. Eine Lesende (Verena Lercher), gekennzeichnet durch das Reclambuch in ihrer hinteren Hosentasche, begleitet das Publikum durch schnelle Szenenwechsel. Zu grossen Teilen dem Originaltext treu, wird erneut die Frage nach der Schuld gestellt. Dafür verwandelt sich das schlicht gehaltene Bühnenbild mit Hilfe einer Tür und eines Fensters in Eves (Alina Vimbai Strähler) Zimmer. Immer abstrusere Szenarien werden ausgedacht, immer absurdere Beschuldigungen ausgesprochen.

Der unzerbrochene Krug Szene
Foto: Ingo Höhn

Die kurzen Szenen werden wiederholt und bei ihrer Wiederholung werden kleine Details verändert, wodurch das Geschehene von Mal zu Mal in ein anderes Licht gerückt wird. So ist ein Blick von Eve zuerst eine Einladung für Adam, die Vermutung einer Affäre liegt nahe. Im nächsten Moment verändert sich ihre Körpersprache in die Darstellung einer Belästigung. Eine Endlosspirale wird ausgelöst, in der immer neue Wirklichkeiten zu finden sind. Eves Verlobter Ruprecht (Jakob Leo Stark), Richter Adam, der Teufel oder Jesus – wer hat denn nun den Krug zerbrochen? Alle fragen nach dem Schuldigen; niemand nach dem «warum».

Kleist entlarvte die Sprache als unzuverlässiges Mittel für die Darstellung von Realität. Jansens gewagte Reduktion des Klassikers auf die Frage nach Wahrheit und Lüge spielt unter anderem auf die mediale Welt an; darauf, dass Wahrnehmung leicht zu beeinflussen ist und nie objektiv sein kann. Er stellt sie im Zusammenhang mit Medienrealitäten in Frage. Allerdings wird die Sprache an sich nicht als Komplizin der Lüge entlarvt. Den Abend abschliessend stellt Adam fest, es gebe zwei Sorten von Menschen: diejenigen, die dem alten Krug hinterher trauern und diejenigen, die in seinen Scherben neue Möglichkeiten sehen.

Der unzerbrochene Krug, noch MI 22. November bis FR 22. Dezember, in der Box des Luzerner Theaters. Weitere Informationen und alle Spieldaten unter: http://www.luzernertheater.ch/derunzerbrochenekrug

Alle Fotos: © Ingo Höhn