Die unbesungenen Heldinnen des Kinos

Eigentlich sind es die Randgruppen des Rampenlichts, die das Kino erfolgreich machen. In «Cascadeuses» nimmt Elena Avdija eine dieser Gruppen in den Fokus: Stuntfrauen. Beim Zurich Film Festival wurde der Dokumentarfilm nun mit einem Goldenen Auge prämiert.

Die Eröffnungsszene ist erschütternd. Eine Gruppe von Männern greift eine junge Frau an. «Schlag sie zusammen!», ruft einer. Ein anderer packt sie am Hals. Bald liegt sie reglos am Boden. Einen Augenblick später bespricht die Gruppe die aufgeführte Szene, die sich an einer Schule für Stuntperformer:innen in Le Cateau-Cambrésis ereignet, einer Stadt im Norden Frankreichs.

Elena Avdijas Filmdebüt begleitet drei Stuntfrauen auf ihrem Karriereweg. Estelle steht noch am Anfang, Petra und Virginie waren schon in einigen Blockbustern zu sehen, in «Fluch der Karibik» oder «Minority Report». Sie springen durch Glasscheiben, werden von gewalttätigen Ehemännern geschlagen oder von Autos angefahren. Jedes Mal stehen sie wieder auf und sind bereit, die Aufnahme zu wiederholen. Sie springen ein, wenn eine Szene die Fähigkeiten der Protagonistin übersteigt oder ein besonders hohes Risiko darstellt. Trotz Sicherheitsmassnahmen ist kein Stunt risikofrei. Verletzungen sind keine Seltenheit, auch schwere Unfälle kommen vor.

Comeback der Stuntfrauen

In den frühen Jahren des Kinos führten Frauen in Stummfilmen ihre Stunts selbst aus. Doch als sich der Tonfilm zu einem grossen Geschäft entwickelte, wurden sie von Männern verdrängt, die – mit Perücken und Röcken – ihre Kolleginnen am Filmset ersetzten. Die politischen Bewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre brachten die Stuntfrauen zurück auf die Leinwand, aber einige Veränderungen stehen noch aus.

Die Darstellerinnen in «Cascadeuses» erzählen, dass sie nach wie vor in stereotype Rollen gesteckt werden. Viel zu oft werden sie als Opfer sexualisierter Gewalt eingesetzt. Ihre Körper sind dabei besonders gefährdet: Spärlich bekleidet müssen sie ohne Schutzausrüstung die Treppe hinunterfallen oder Schläge einstecken. Indem die Stuntfrauen zu Wort kommen, hinterfragt der Dokumentarfilm die Art und Weise, wie Gewalt auf der Leinwand reproduziert wird. So stellt sich auch die unausweichliche Frage: Spiegeln diese Bilder die gesellschaftliche Realität wider oder schaffen sie sie vielmehr? Ein Teufelskreis, bei dem ein Element das andere verstärkt.

Verfolgungsjagden mit glühenden Reifen und packende Kampfszenen locken Menschen ins Kino. Egal wie spektakulär die Stunts sind, ihre Performer:innen bleiben meistens anonym. Ihre Namen tauchen nicht im Abspann auf, ihre Gesichter sind nur flüchtig zu sehen. Die Frauen in «Cascadeuses» erhalten nur wenig Anerkennung. Dies verdeutlichen die Erzählungen von Petra. Sie nimmt Schauspielunterricht, sieht sich als Showbusiness Woman und führt jene Szenen aus, ohne die Filme nicht zustande kämen. Dennoch bleibt sie unsichtbar. Das Rampenlicht scheint nicht für sie bestimmt zu sein.

Gläserne Decke 

Was also gibt es zu gewinnen, wenn der Ruhm für die Stuntfrauen unerreichbar bleibt? Für Petra, Estelle und Virginie ist die Stuntkarriere eine Fortsetzung ihres Erfolgs im Kampfsport, beim Parkour oder im Zirkus. Häusliche oder sexualisierte Gewalt ist leider ein alltägliches Phänomen: Auch unter den Stuntfrauen gibt es jene, die selbst körperliche Gewalt erlitten haben. Bei ihnen kann ein Stunteinsatz schmerzhafte Erinnerungen wachrufen, aber auch helfen, solche Erfahrungen hinter sich zu lassen. Über diese Erfahrungen sprechen die Protagonistinnen nicht explizit, sondern deuten sie nur vage an.

Seit 20 Jahren ehrt die Taurus World Stunt Academy in Los Angeles die besten Stuntprofis. Alle Kategorien stehen Frauen offen, in einer kommen sie aber selten vor. Die Koordinator:innen, die bei einer Filmproduktion die Stunts besetzen und choreografieren, sind nach wie vor überwiegend männlich.

Elena Avdijas Film zeigt einen Aspekt der Filmindustrie, über den selten gesprochen wird. Er zeigt aber auch, dass selbst für erfahrene Stuntfrauen der Weg zur Gleichberechtigung noch lang ist. Es wäre an der Zeit, auch durch diese gläserne Decke zu springen.

Elena Avdija: Cascadeuses
CH 2022, 84 Min. 
Ab DO 17. November
Bourbaki Kino, Luzern


 

041 – Das Kulturmagazin
November 11/2022

Text: Emilia Sulek
Bild: Bande à Part Films

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