Die Demontage William Turners

Kunstmuseum Luzern, 10.10.2019: Cees Nooteboom wundert sich, wer William Turner eigentlich war und bleibt dabei hellsichtig im Bereich des Ungewissen. Am Ende wirkt Turner so demontiert wie seine Landschaften.

Während es draussen von der Määs her donnert und blitzt, wird im Kunstmuseum Luzern noch einmal ganz gediegen ein prominenter Gast zu William Turner befragt. Kurz bevor am Sonntag das Licht in der grossen Jubiläumsausstellung «Turner. Das Meer und die Alpen» ausgehen wird, präsentierte der renommierte Schriftsteller Cees Nooteboom seine Gedanken zum britischen Maler.

Der niederländische Autor gilt als exzellenter Geschichtenerzähler. Nooteboom publiziert seit den 1950er Jahren erfolgreich Texte in unterschiedlichsten Genres. Neben Gedichten und Romanen wie «Rituale» (1980), «Allerseelen» (1998) oder «Die folgende Geschichte» (1991) ist Nooteboom besonders auch durch seine literarischen Reiseberichte bekannt. Diese unverdächtig wirkenden Texte zu zahllosen Destinationen sind eine Mischung aus Impressionen, Beobachtungen, Kunstkommentaren und Reflexionen. Selbst – oder gerade bei – unendlich oft gesehenen und zu oft beschriebenen Orten, vermag der 1933 geborene Nooteboom oft noch etwas hinzuzufügen.

Nooteboom im Kunstmuseum

Für einen umfassenden Überblick kann sich in die zehnbändige Werkausgabe des Suhrkamp Verlags begeben werden. Oder man greift im Shop des Luzerner Kunstmuseums zwischen Turner-Zahnbürste, Turner-Seidentuch und Turner-Schokolade zum Ausstellungskatalog. In dem von Fanny Fetzer und Beat Wismer konzipierten Band findet sich Nootebooms erhellender Beitrag zum Wesen Turners.

Wer war Turner?

In standesgemässen Ambiente der Ausstellung lauschten die etwa 60 Besucher*innen interessiert Nootebooms Lesung dieses Textes. Turners Leben wird darin zwar auch über wichtige Eckpfeiler abgeschritten, es handelt sich jedoch weniger um eine konventionale Biografie. Vielmehr bietet Nooteboom zwischen den Zeilen eine literarische Reflexion auf das Format Biografie mit seinen entsprechenden Vorstellungen von konsistenten Persönlichkeiten und allzu glatten Lebensnarrativen.

Neben potenziell notariell beglaubigten Daten interessiert sich Nooteboom eher für spekulative Gedanken und fragt sich, wer Turner denn nun eigentlich wirklich war. Wie sprach Turner? Was dachte Turner? Mit welchem Gefährt reiste Turner? Redete Turner mit Fremden? Wie kam Turner ohne Fremdsprachenkenntnisse über die Grenze? Warum trug Turner einen Hut? Wie bewegte sich Turner durch Paris? Wie wirkte die schweizerische Landschaft auf Turner bei seinem ersten Besuch? Solche Fragen kann gerade ein Künstler stellen, weil er nicht aufgrund wissenschaftlicher Disziplin vor wahrscheinlich unbeweisbaren Phänomenen vorauseilend zurückschreckt.

Nooteboom im Kunstmuseum

In Nootebooms unschuldig anmutender Neugier am «Wesen Turners» entfaltet sich die stilistische Kraft seines Vorgehens, weil er in gewisser Weise Turners Methode kopiert und heimlich verdoppelt. Nooteboom liest Turners Werk primär als Demontage des Raums und strategische Zergliederung der Natur. Die künstlerische Arbeit wird hier als Forschen, Nachspüren, Umkreisen und Ausprobieren beschrieben. Turner habe mit der Natur «einen grossen Gegner gehabt» und hätte deshalb sein ganzes Leben der Untersuchung des Wesens der Natur gewidmet. Der Maler hätte sich so intensiv mit den unzähligen Nuancen von bewegtem Wasser, einem sich ständig verändernden Himmel, ephemerem Licht, der Andeutung von Land oder der unheimlichen Gestalt der Berge beschäftigt, weil er Phänomene erforschen wollte, die zwar eine Erscheinung haben, jedoch nur schwer genau zu benennen sind. Alles sei für Turner immer eine «Studie im Laboratorium» seines Lebens gewesen.

Diskussion kam nicht in Fahrt

Wenn Nooteboom hier die Poesie in Turners Werk ausmacht, wird deutlich, dass seine eigene Biographie des Malers einer vergleichbaren Strategie folgt. Nicht die harten Fakten oder die einzige Wahrheit, sondern ein produktiver Umgang mit den vielen Ungewissheiten zum Wesen Turners steht im Fokus. Wenn der Maler die Berge um Luzern entgegen aller Physik anheben, schieben, zergliedern und wiegen wollte, so macht Nooteboom augenscheinlich das gleiche mit der Figur Turner – ohne jemals auch nur eine prüfbare Antwort zu erwarten. Das so gezeichnete (beziehungsweise geschriebene) Bild von Turner ähnelt in seiner auflösenden Erscheinung verdächtig Turners Arbeiten und gerade weil wir so vieles nicht wissen können, kann so frei nachgedacht werden.

Wer war nun also Turner? Ein Brite? Ein Wunderknabe? Ein Streber? Ein Vorläufer der Impressionist*innen? Ein Frauenfeind? Ein Vatersöhnchen? Nootebooms Antwort lautet so einfach wie schlüssig, dass es «nicht einen Turner gibt, sondern mehrere». Die Stärke von seinem Text liegt in der literarischen Darstellung dieser Antwort und den daraus entstehenden spekulativen Fluchtlinien.

Die Lesung in der Ausstellungsräumen konnte die Lektüre nicht ersetzen, sie kam aber als Event gut beim Publikum an. Das anschliessende Gespräch zwischen dem Autor und Beat Wismer, dem Kurator der Ausstellung, kam hingegen nicht so richtig in Fahrt. Es gab unterhaltsame und hellsichtige Momente, allerdings wurde Nootebooms Talent als Geschichtenerzähler nicht abgerufen, weil er über längere Strecken doch eher wie ein klassischer Biograf adressiert wurde oder nach dezidiert kunsthistorischen Einordnungen gefragt wurde. Das Publikum quittierte das Gespräch mit dem Verzicht auf Nachfragen, kam danach aber bei einer heiteren Signierstunde noch voll auf seine Kosten.

Cees Nooteboom im Gespräch mit Beat Wismer
FR 11. Oktober, 19 Uhr
Kunstmuseum, Luzern

Finissage: Turner. Das Meer und die Alpen
SO 13. Oktober
Kunstmuseum, Luzern