«Der Kirschgarten»: In der Erinnerung gefangen

Luzerner Theater, 20.9.2020: Das LT eröffnet die neue Spielzeit in der Sparte Schauspiel mit Anton Tschechows «Der Kirschgarten». Die Inszenierung stellt unser Verständnis von Arbeit in Frage. Zeitlos, zeitgemäss und an der Zeit, dass sich auch das Theater selbst diesen Fragen stellt.

Bilder: Ingo Höhn

Das griechische Regie-Duo Christos Passalis und Angeliki Papoulia zeigen nach «Alkestis!» und «Der Besuch der alten Dame» ihre dritte Produktion am Luzerner Theater, nun inszenieren sie zum ersten Mal in der Box. Mit «Der Kirschgarten» zeigen sie Anton Tschechows letztes Stück, eine Tragikomödie aus dem Jahr 1903. Es ist die Geschichte einer wohlhabenden Familie, die nach Jahren des Wohlstands und der Dekadenz Vermögen sowie Land und Gut verliert, ein Anwesen umgeben mit einem malerischen, doch nutzlosen Kirschgarten.

Das Stück ist eine Kritik am Stellenwert, den wir der Arbeit in unserer Gesellschaft beimessen. Wie definiert die Arbeit uns als Menschen? Und wer sind wir, wenn die Arbeit wegfällt? «Zeitlosigkeit» stecke im Werk, sagt uns der Stückbeschrieb, da man sich in Russland zur Jahrhundertwende diese Fragen stellen musste, nachdem die Leibeigenschaft abgeschafft war und die revolutionäre Arbeiterbewegung Fahrt aufnahm. Hochaktuell sei das Stück, so Schauspielleiterin Sandra Küpper in ihrer Premierenrede nach der Vorstellung, weil die Pandemie unsere Sicht auf den Wert von Arbeit diametral verändere.

Der Kirschgarten
Der Student Trofimov, gespielt von Julian-Nico Tzschentke.

Die Inszenierung will «Antworten schliessen, Fragen öffnen», wie Passalis in der Programmbeilage erläutert. Wie Tschechow eben. Das Stück zeigt keine Held*innen, sondern Figuren, die mit sich und ihrer eigenen Geschichte kämpfen. So reden alle fröhlich aneinander vorbei. Die Dialoge sind eher zwei Monologe, die Figuren sind zu sehr mit sich beschäftigt, als dass sie wirklich auf das Gegenüber eingehen können. Die Stimmung wechselt schnell, das Spiel steuert verlässlich und ausweglos auf den Abgrund zu.

Corona-Pavillon wird zu Schaukasten

Die erste Schauspielproduktion der Spielzeit ist gelungen. Das Stück ist als Erinnerung des Familiendieners und Museumswärters Firs inszeniert. Die in der Gegenwart verortete Figur, stark besetzt durch Urs Bihler, kommentiert das Geschehen mit künstlich verstärkter Stimme, übersieht und kommentiert die Handlung und stellt die einzelnen Personen vor.

Für den Part der Gutsbesitzerin Ljubow Andrejewna Ranewskaja wurde die französische Schauspielerin Marion Duphil-Barché gecastet. Sie spielte an der Comédie de Reims in «Galaxy», einer Performance des griechischen Kollektivs Blitz, das von Passalis und Papoulia geleitet wird. Duphil-Barché spricht im Stück fast nur Französisch, die deutsche Übersetzung wird an das Bühnenbild projiziert. Die in Strasbourg ausgebildete Schauspielerin spielt die fragile, gescheiterte, traumatisierte und doch nach Würde ringende Gutsbesitzerin grossartig überzeichnet – wie es die Inszenierung verlangt. Denn die Personen auf der Bühne sind keinesfalls menschlich dargestellt, sie bewegen sich wie aufziehbare Puppen: determiniert, rastlos, künstlich.

Der Kirschgarten
Tochter Anja wird verkörpert durch Dagna Litzenberger - Vinet

Das Bühnenbild, ein vom Publikum umgebener Pavillon, gleicht denn auch einem runden Spielkasten eines Figurentheaters und tatsächlich bewegen sich die Schauspieler*innen hölzern und repetitiv, wie geführte Puppen. Motive werden minutenlang wiederholt, die Figuren baumeln während ihren Gesprächen an Schaukeln hin und her oder tanzen bis zur totalen Erschöpfung im Kreis. Die Überzeichnung der Figuren spitzt die Kritik zu: Wenn man sich den ganzen Tag im Karussell dreht, wie viel Menschliches bleibt übrig? Das wohl als Corona-Massnahme nötige Bühnenkonstrukt zur Trennung von Publikum und Ensemble wird so bestens in die Inszenierung integriert.

Die Spannung reisst nie ab

Tschechow lässt alle seine Figuren scheitern, an Erwartungen von aussen und innen – und am Leben selbst. Niemand erträgt die Veränderungen am Status Quo, die sich wandelnde Welt erfüllt alle mit Angst. Schliesslich muss die Familie das Gut verkaufen, der Schuldendruck wird zu hoch. Der ehemalige Leibeigene Jermolaj Alexejewitsch Lopachin kauft schliesslich das Haus seiner vormaligen Herren, erfüllt so den American Dream, wird vom Tellerwäscher zum grössten Hai im Shark Tank – und holzt kurzerhand die Kirschbäume ab. Die Darstellung Lopachins gelingt Fritz Fenne hervorragend.

Der Kirschgarten
Fritz Fenne gelingt die Darstellung Lopachins, des ehemaligen Leibeigenen.

Die 100-minütige Vorstellung hat keinen Durchhänger. Im Gegenteil: Teilweise ist sie kaum auszuhalten, chaotisch und laut, es wird geschrien aber nicht zugehört während die dröhnende Hintergrundmusik zu einem bedrohlichen Grollen anwächst. Das Ensemble lässt das Publikum kaum durchatmen und schafft’s, die Spannung trotz anspruchsvollstem Stoff nie abreissen zu lassen.

Am Ende wiederholt der alte Diener Firs, was er eingangs bereits sagte: «Vergessen Sie nicht, nach der Vorstellung ihr Mobiltelefon wieder einzuschalten.» Schliesslich soll man so schnell wie möglich wieder erreichbar sein, man könnte ja etwas verpassen.

Der Kirschgarten
Der Diener Firs, gespielt von Urs Bihler.

Das Stück endet unter gebührendem Premierenapplaus. Noch während Sandra Küppers wohlwollenden Worten an die Beteiligten leuchtet ein Smartphone-Screen auf, Benedikt von Peter tippt etwas in sein Handy und man wundert sich, ob die Fragen, welche die Inszenierung dem Publikum vorsetzt, auch beim Intendanten angekommen sind.

Der Kirschgarten
Bis FR 27. November
Luzerner Theater

Inszenierung: Christos Passalis, Angeliki Papoulia; Bühne: Márton Ágh; Video: Péter Fancsikai; Dramaturgie: Nikolai Ulbricht

Spiel: Marion Barché; Dagna Litzenberger-Vinet; Wiebke Kayser; Christian Baus; Fritz Fenne; Julian-Nico Tzschentke; Alessio Montagnani; Urs Bihler