...denn sie wissen, was sie tun

Allmend Mehrzweckhalle, 05.06.2014: Um eine Kritik über «Verona 3000» zu schreiben, bedarf es der Betrachtung zweier Ebenen. Erstens ist «Verona 3000» ein Jugendprojekt, dessen Drahtzieher - so zumindest die offizielle Mitteilung - getrieben sind von Fragen an die eigene Generation und ihre Zeit, es ist ein idealistisches, wenn nicht ideologisches Unternehmen. Zweitens ist «Verona 3000» ein Musical, das mit seiner Formkonvention nicht hadert, aber eben (siehe erste Ebene) auch nicht zum (kommerziellen) Selbstzweck entstanden ist. «Verona 3000» ist zugleich soziokulturelle Animation und Abendunterhaltung, oder: zugleich Jugendaktivismus und Kunstwerk.

Fiebergeburt Die Definition eines Anfangs ist oft gewalttätig. Hier beginnt «Verona 3000» irgendwo zwischen den Jahren 2005 und 2006 im Umfeld des Vereins MusicalFever. Daniel Korber, der junge Regisseur von «Rise of the Exwives» übergibt das Zepter dem noch jüngeren Joseph Sieber zur Leitung von «Die mit dem Graf tanzt». Diese Übergabe war nachhaltig. 2010 beginnt «Verona [damals noch] chill-out» in den Köpfen der beiden Herren Formen anzunehmen und der Trägerverein des Projekts (Plan B) entsteht. MusicalFever ist das rückgradgebende Netzwerk. Im Ensemble, im künstlerischen und im Produktionsteam von «Verona 3000» findet man VeteranInnen dieses Vereins, der seine Wiege in der Kantonsschule Alpequai hat und von dessen Autonomisierung und Öffnung für Nicht-GymnasiastInnen «Verona 3000» als Destillat betrachtet werden kann. Ein Casting im Frühling 2012, das sich an junge Menschen aus der ganzen Zentralschweiz richtete, war der «Kick-off». Die Vertrauensbildung der Beteiligten und das Selberentwickeln und -machen sämtlicher Aspekte war der Weg zur Uraufführung am 9. Mai 2014.

Plot und Personal Eine Zentrale (verkörpert durch eine finstere Ledermantelträgerin), ein TV-Team mit Kameramann (GlobeTV), eine jugendaffine Band (Mercutio) mit devoten DJs im Anhang, eine Gang von systemfeindlichen Jugendlichen, zwei heterosexuelle Paarbeziehungen, schon im ersten Erscheinen zerfallend, weissbekittelte Traumlebenverkäufer, News- und Werbesprechende - das ist das überschauliche Hauptpersonal einer dreistündigen Darbietung. Der Plot: trotz Totalüberwachung und Hypertaser macht die Jugend der Zentrale Sorgen, weshalb GlobeTV mittels traumpaarfindender Reality-Show (Inspiration der Fernsehmacher: Romeo und Julia, also ein junges Traumpaar) die Gefahr absorbieren soll. Die machiavellische Intervention stellt sich erst selbst ein Bein, geht dank der Anpassungsfähigkeit der Autoritäten letztlich aber auf.

Die Welt Mit der Heraufbeschwörung einer Dystopie beginnt das Stück, und falls die 1984-festen bei der sprachlich-visuellen Erfüllung der Genreerwartung noch unbeeindruckt waren, so jagte ihnen spätestens das musikalische Ausrufezeichen einen Schrecken ein. Die Science-Fiction ist bescheiden, das Alltagsleben der Figuren ist vertraut, Kostüme und Sprechweisen sind nur da extravagant, wo reine Charaktere fungieren, wobei besonders das überhitzte TV-Team an die Ästhetik der «Hunger Games» erinnert und damit die Reality-Show innerhalb des Musicals intertextualisiert. In der Kulissenfassade leuchten einzelne Rechtecke auf, wo Talks, Newsmeldungen und Werbung im gleichen Strom die Fenster zur Welt öffnen, die GlobeTV in knappen Häppchen (ab)bildet. Der Kameramann auf der Bühne bleibt ihr selbst verhaftet. Seine Aufnahmen, und damit die Bühne, sind nur ein Ausschnitt «der Welt», doch dieser Ausschnitt wirkt so hermetisch, dass er gerade mit dem kahlen Bühnenbild die Frage aufwirft, was denn das für eine Welt ist, und was sie mit derjenigen des Publikums zu tun hat. Auf einem abstrakteren Level ist das Thema der Globalität aber beeindruckend gelöst. In einer Eingangsszene des Musicals bespricht sich das TV-Team auf weltkartebedruckten Fitnessbällen sitzend, schubst sie herum, trägt sie unter den Armen. Es spielt mit Welten. GlobeTV sind Tele-Visionen der Welt. Der Mensch ist grösser als die Welt. Der Mensch kann Welten kreieren. In einer Ausgangsszene wird ein sich drehender Globus auf die Bühne projiziert, seine ganze Rundung ist nicht erblickbar, dazu wird im verdunkelten Raum eine Ariette vorgetragen von einem im Verlauf des Stückes verstorbenden Mercutio-Mitglieds. Hier erscheinen eine einzige Welt, die grösser als der Mensch ist, und der Tod.

Massgeschneidert Tempo. Schnell wird oft geredet. Schnell sind die Szenen ineinandergeschnitten. Schnell sind manche Handlungssprünge. Eine Turbo-Welt, streckenweise ein Turbo-Theater. Und aus dieser ganzen Geschwindigkeit tauchen Choreographien auf, die mit Vehemenz, Formschönheit und Wirkmächtigkeit überzeugen. Das sind auch Sprach-Choreographien. In manchen Passagen reihen sich die Worte zu Lautskulpturen aneinander, ohne den Sinn zu verlieren. Die Sprecherwechsel, die Übergänge zwischen Gesprochenem und Gesungenem sind zumeist aalglatt oder brechen pointiert. Es besteht kein Zweifel, die künstlerische Leitung hat sich viel Zeit genommen, die individuellen Potentiale zu finden, zu kristallisieren und zu vereinen. Um nochmals die Weltbälle zu erwähnen: es ist eine Leistung, mit so etwas schwer kontrollierbarem wie mehreren rollenden Kugeln den Spielfluss nicht zu verlieren. Und es ist eine Leistung, mit nicht-professionellen DarstellerInnen im Rahmen ihrer Freizeit neben Schule oder Studium, Ausbildung oder Arbeit so eine Show abzuliefern.

Metamode Kurz vor der Pause küssen sich Angie und Luca an der Casting-Party der Reality-Show. In der nächsten Szene sind sie schon schwer verliebt. Angie ist noch mit dem Egozentriker Jorge zusammen, der mit ihr die Show gewinnen will, an der sie aber nicht teilnehmen möchte. Luca wurde gerade wegen seiner Pflaumenhaftigkeit fallen gelassen. Schon vorher sind sie durch ihre Unauffälligkeit aufgefallen, jetzt ist klar: sie sind Romeo und Julia des Musicals (und am Ende auch des GlobeTVs, siehe Anpassungsfähigkeit). Der dem Prätext verdankte Spannungsbogen nimmt seinen Lauf und damit sind die Erwartungen des Publikums aktualisiert und also auch das Spiel mit ihnen. Neben diesem Spiel ist «Verona 3000» wenig überraschend durchzogen von Metafiktionalität und -Medialität, denn das Musical will ja die Generation facebook etc. thematisieren. Und Ironie ist ständige Begleiterin als Grundton von Sendebewusstsein, Distanziertheit, Selbstobjektivierung. Das betrifft auch «Verona 3000» selbst: der Kameramann hat Schulden, weil er an einem politischen Musical beteiligt war, das TV-Team bezeichnet ein Musical als nicht zweckadäquates Mittel, ein Kunde, der aus dem Freezer der Traumlebenverkäufer erwacht, wird als erste Person bezeichnet, die am hiesigen Abend wirklich auftaut, und der Kameramann entpuppt sich gegen Ende als eine Zentralfigur. Die dreifache Referenz von «Verona 3000» wird in Szene gesetzt - das Jugendprojekt, das Musical, die Reality-Show - und verleitet zur Frage, inwiefern Ersteres Letzteres ist (schliesslich gibt es über den gesamten Projektverlauf ja auch eine Filmdokumentation).

Star-crossed lovers Ein starker Moment in der Geschichte: Luca und Angie sollen ihre Phones an die Wand tätschen, um ihre Liebe zu schützen, und sie tun es nach Zögern. Ist das die Definition der zeitgenössischen romantischen Liebe: dass ihre Liebenden ohne ihre erweiterten Hirne vollkommen in der Welt sind? Jedenfalls macht dieser subversive Akt das Paar erst glaubwürdig und ermöglicht damit seinen Tod (weil sie für die Liebe ihr Leben aufgeben würden, nicht nur ihre Phones). Der Tod wird hingegen nicht durch unglückliche Zufälle herbeigeführt, sondern von Zentrale und TV-Team eingefädelt und die Exekution ist eine Leerstelle. Angie und Luca, die Anti-Entertainer sterben als Stars. Perfiderweise können sie als Tote an dieser Fremddefinition nicht rütteln. Gerade dann, wenn die Aufständischen vor dem Explodieren sind, werden die Leichen auf dem Tablett vorgefahren und alles verstummt. Trotz aller Bewusstheit kann mit Toten immer noch für Ruhe gesorgt werden, das wendet die Regie des Musicals aufs Publikum an und GlobeTV auf die Freiheitsdurstigen. Während die Figuren tatsächlich eingelullt wirken, überkam mich das unangenehme Gefühl, dass es die Zentrale doch recht einfach hat mit ihren (sinngemäss zitiert:) Nachrichten, nach denen sich die Menschen richten.

«Alle guten Dinge …» Ist «Verona 3000» ein Stück von der Jugend über die Jugend? Ist das Agieren mit frischesten Medien den Jugendlichen vorbehalten? Können allein Jugendliche revolutionieren? («Die Stadt abbrennen, in der sie leben.») Sind nur Jugendliche manipulierbar? Verlieben sich nur Jugendliche auf ungünstige Weise? Nein. Plot und Themen sind nicht von - was auch immer das ist - Jugendlichkeit bedingt. Aber sicher haben junge Menschen das Werk geschaffen, wenn auch die Frage erlaubt sei, inwiefern sich hier Nachzwanziger mit Vorzwanzigern reflektiert haben. Das Jungsein bekommt besonders Gehalt, wenn der Fokus auf das dritte Jahrtausend gelegt wird. Das Altsein ist thematisch und darstellerisch im Musical völlig ausgeblendet, allenfalls kommen die Jungen erwachsen oder weise daher. Die Frage ist, was wir jetzt miteinander tun wollen. Die Antwort von «Verona 3000» (als Jugendprojekt) ist: Kunst statt Konsum. Die Ressourcen werden knapper, die Arbeit rationalisiert, digitalisiert, maschinell. Lieber l’art pour l’art machen und sich selber damit Sinn geben, als der kapitalistischen Marktwirtschaft die Obsolenz zu überlassen. Und wenn man Kunst macht, dabei Spass hat und auch noch viele Menschen unterhält (bissig sein und doch die Halle füllen, dieser Spagat ist irgendwie geglückt), dann kommt man auch nicht auf dumme Gedanken. Zum Beispiel Krieg, Selbstbereicherung oder die eigene Stadt anzünden.