Daten und Geheimnisse bunkern: Ein Baustellenbesuch am Wartegghügel

Im Warteggstollen in Luzern wird ein Data Center gebaut. Auskunft wird jedoch nicht gegeben – das Rechenzentrum Stollen Luzern hat kein Interesse an einem Besuch, einer Reportage oder einem Gespräch. Auch nicht von einer Professorin, die zu diesem Thema forscht und schon zahlreiche andere Rechenzentren in der Schweiz besuchen durfte. Für die Historikerin Monika Dommann erst recht Grund für genaues Hinschauen.

Die Antwort auf meine schriftliche Anfrage Mitte September war freundlich, aber klar: «Die Sicherheit und Diskretion beim Rechenzentrum Stollen Luzern kommt für uns an erster Stelle, deshalb möchten wir auf den Beitrag im Kulturmagazin 041 zu unserem Rechenzentrum verzichten.» Ich hatte in den letzten Jahren bereits einige Data Centers zu Forschungszwecken besichtigt: Einige waren im Bau, andere in Betrieb, einige mit Racks gefüllt, andere eher leer – in Erwartung weiterer Kundschaft.

Dass Energie Wasser Luzern (EWL) in Luzern zurzeit im Warteggstollen ein Data Center baut, entspricht durchaus einem Trend: Einige Stromproduzent:innen sind in den letzten Jahren ins Geschäft mit der Datenlagerung eingestiegen und bieten den Kund:innen Racks zur Miete oder auch Cloud-Lösungen an. Dass aber ein Gespräch ausgeschlagen wird, ist für mich eher ungewöhnlich. Dieses besonders ausgeprägte Bekenntnis zur Diskretion der Betreiberin des Rechenzentrums Stollen weckte meine Neugier als Infrastrukturforscherin.

Dass aber ein Gespräch ausgeschlagen würde, war für mich eher ungewöhnlich. Dieses besonders ausgeprägte Bekenntnis zur Diskretion der Betreiber des Rechenzentrums Stollen weckte meine Neugier als Infrastrukturforscherin.

Luftschutz- und Verwaltungsstollen Wartegg: Überlebensszenarien im Kalten Krieg
Ich begann meine Recherche da, wo sie Historiker:innen meistens beginnen – im Archiv. An einem nebligen Herbstmorgen tauchte ich im Staatsarchiv Luzern (wo die Akten des Luftschutzstollens liegen) in die Zeit des Kalten Krieges ein. Diese Epoche war geprägt von zwei Supermächten, die mit dem Potenzial einer atomaren Vernichtung die Welt in Schach hielten. Obwohl auch die Schweiz zwischenzeitlich einmal atomare Aufrüstungspläne hegte, profilierte sie sich international auf einem anderen Gebiet: dem Zivilschutz. Die Bedrohungsszenarien des nuklearen Zeitalters und auch die Subventionen des 1963 eingeführten Bundesamtes für Zivilschutz lösten einen regelrechten Bauboom für unterirdische Betonbunker aus. Familien, Dörfer und ganze Städte sollten einen atomaren Angriff unterirdisch überleben, Behörden und ihre Mitarbeiter:innen nach einem «nuklearen Holocaust» in Bunkern weiterregieren – etwa im Wartegghügel in der Stadt Luzern.

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1964 begannen im Auftrag des Baudepartements des Kantons Luzern Probebohrungen für das «Projekt der Luftschutz- und Verwaltungsstollen». Rückblickend stellt sich die Frage, ob das Betonrefugium seine Tore wirklich primär für Kantonsschüler:innen der nahe gelegenen Kantonsschule Alpenquai oder doch eher für die Angestellten der Verwaltung geöffnet hätte. Für den ehemaligen Betriebswart Hansruedi Furrer, der die Akten des Warteggbunkers 2010 dem Staatsarchiv übergab, war angesichts der grossangelegten Telefonanlage klar, dass der Stollen eher als Grossraumbüro für die Verwaltung konzipiert war. Auch ist in den Plänen beim Notausgang ein eigener Eingang für die Verwaltung eingezeichnet. Zur Wasserversorgung wurde eine Seewasserleitung vom Segelbootshafen Alpenquai zum Wartegghügel verlegt. In den Jahren 1968 und 1969 arbeiteten bis zu 50 Bauarbeiter im Stollen. Die Namen auf den Lohnlisten verweisen auf  sogenannte Gastarbeiter, die die Infrastrukturen der Schweizer Zivilverteidigung gebaut haben. Jene Gastarbeiter, die 1970 von den Schweizer Stimmbürgern (ja, es waren bloss Männer!) bei der Abstimmung zum «Volksbegehren gegen die Überfremdung» mit nur knapp 54 Prozent Nein nicht in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt worden sind.

Plötzlich sind sie wieder zurück – die alten Ängste vor nuklearen Zerstörungen. Neu ist, dass diese Gefahren im Zusammenhang mit Sicherheitsdispositiven in Bezug für Daten in Clouds und bei virtuellen Vermögenswerten hervorgerufen werden.

Die unterirdische Anlage umfasste fünf Schutzräume, drei Verwaltungsräume, einen Maschinenraum, eine Küche, zwei Toiletten und an den drei Eingängen je eine Schleuse. Anhand der maschinengeschriebenen Bedienungsvorschriften lassen sich die Vorbereitungen an der Anlage, die bei Kriegsgefahr hätten ergriffen werden müssen, im Kopf durchspielen: Da hätten etwa die Betonbretter am Eingang der Verwaltung entfernt, die Atomdruckklappen geschlossen, das Bedienungspersonal rekrutiert und instruiert, die PTT-Telefonanlage (mit 20 Nummern!) angeschlossen, die Gegensprechanlage eingeschaltet, die Seewasserpumpen bereitgestellt und die ABC-Spürgeräte organisiert werden müssen.

Mit dem Ende des Kalten Krieges waren die Atomwaffenarsenale nicht aus der Welt geschafft. Doch die alten Bedrohungsszenarien mitsamt ihren Infrastrukturen sind nach 1989 aus der Zeit gefallen. Die lähmende Angst vor dem Day After (so der Titel eines amerikanischen Blockbusters von 1983) und der Ernst, mit dem das Überleben nach dem nuklearen Schlag eingeübt worden war, waren verschwunden. Zwar wurde die Wartegganlage nach 1989 noch routinemässig gewartet. Doch irgendwann verblieb sie wie viele alte Bunker und Stollen in der Schweiz ungenutzt.

Ein Data Center unter dem Waldhügel mitten in der Stadt
Dass ausgediente Schutz- und Bunkeranlagen in der Schweiz zu Datentresoren umgebaut werden, hat inzwischen schon fast Tradition. Bemerkenswert ist das Unternehmen Mount10: Die in Baar ansässige Firma, die sich mit der Aufbewahrung von elektronischen Daten beschäftigt, hat eine ausgediente Militärbunkeranlage in Saanen im Berner Oberland zum Swiss Fort Knox umgenutzt. Auch die in Zug ansässige Bitcoin Suisse AG, die mit Kryptovermögenswerten handelt, wirbt mit einem alten Bunker für die Sicherheit der Swiss Crypto Vaults. Die Zahlencodes, mit denen man Zugriff auf die Konten von Kryptoassets erhält, sind nämlich in einer alten Militäranlage an einem geheimen Standort mitten im Alpenmassiv gebunkert. Plötzlich sind sie wieder zurück – die alten Ängste vor nuklearer Zerstörung. Neu ist, dass diese Gefahren im Zusammenhang mit Sicherheitsdispositiven für Daten in Clouds und virtuelle Vermögenswerte hervorgerufen werden.

Letztes Jahr haben der Stadtrat und der Grosse Stadtrat von Luzern beschlossen, das Grundstück des ehemaligen Schutzstollens am Wartegghügel im Baurecht an die Rechenzentrum AG von EWL abzugeben. Auf der Webseite wird explizit darauf hingewiesen,  dass EWL als privatrechtliche Aktiengesellschaft zu 100 Prozent im Besitz der Stadt sei. Für sie ergibt sich damit die Möglichkeit, die IT-Infrastruktur der Verwaltung in zwei geografisch getrennten Rechenzentren zu betreiben. Von den 1865 Quadratmetern sollen 20 Quadratmeter an die Stadt vermietet werden. Doch wer wird die anderen 1845 Quadratmeter beziehen? Die EWL-Gruppe erhofft sich durch das Rechenzentrum Stollen die Erschliessung eines neuen Geschäftsfeldes, nachdem die alten Geschäftsmodelle durch den Wettbewerb an den liberalisierten Märkten unter Druck geraten sind. EWL sitzt als öffentliches Energiedienstleistungsunternehmen fast an der (Strom-)Quelle. Diese Affinität zum Strommarkt ist ein nicht ganz unerheblicher Vorteil, wenn man bedenkt, dass im Projektbeschrieb des Stadtrats der Stromverbrauch des Rechenzentrums mit 5 Prozent des Gesamtstromverbrauchs der Stadt Luzern veranschlagt wird.

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Baustellenspaziergang im Herbstlicht
Als ich gegen Mittag vom Staatsarchiv aufbrach, hatte sich der Nebel aufgelöst. Ich schlenderte zunächst über den Richard-Wagner-Weg zum Richard Wagner Museum und blickte auf eine berauschend schöne Landschaft – mit herbstlich gefärbten Bäumen, der Silhouette des Pilatus im Hintergrund und dem Blau des Vierwaldstättersees. Die pittoreske Landschaft Luzerns – sonnige Dunstlandschaften im Herbstgold und das Blau des Vierwaldstättersees – spielt auch in den Imagevideos von EWL eine tragende Rolle. Der Vogelflug über Naturlandschaften betont die Nachhaltigkeit der Einrichtungen, der Blick auf die Stadt Luzern die lokale Verankerung der Rack-Anlagen, der blaue Vierwaldstättersee die Energieeffizienz der Kühlungsanlage. Tatsächlich ist die Dekarbonisierung der Energie zurzeit die grosse Herausforderung für das grosse Versprechen von Energieunternehmen. EWL verspricht auf der Website ein «climate neutral data center» zu bauen. Durch die Nutzung der Abwärme wird ein Teil der Energie wieder in die Kreisläufe eingespeist werden können. Doch angesichts von internationalisierten Strommärkten und Stromimporten aus dem Ausland (gerade in den Wintermonaten) ist es gar nicht so einfach zu beurteilen, wie viel CO2 tatsächlich im Betrieb von Data Centers steckt. Data Centers sind wohl so clean wie die Zertifikate, die die Nachhaltigkeit der Energieproduktion sicherstellen sollen.

Die Bauarbeiten an den beiden Stollen am Tribschenmoosweg hinter dem Eisstadion sind schon weit fortgeschritten, wie ich bei meinem Spaziergang feststellen konnte. Die Fahrzeuge der Firmen Heitkamp aus Dierikon und Anliker aus Emmenbrücke und die Logos der Firma Datasign aus Stans, die als Generalplanerin das Rechenzentrum Stollen Luzern einrichtet, verweisen auf einige Unternehmen, die in den Bau involviert sind. Auf den Websites der beteiligten Firmen sind Videos hochgeladen, die den Fortschritt der Bau- und Einrichtungsarbeiten dokumentieren. Der Stollen selbst bleibt verschlossen. Der Innenausbau bleibt trotz der Videos weitgehend unsichtbar. Der Fotograf Finn Curry hat den Wartegghügel ein paar Wochen vor mir besucht und den Bau der neuen infrastrukturellen Landschaft fotografisch festgehalten. Natur (Wald) und materielle Kultur (Bauten) fliessen ineinander über. Die Spuren des alten Schutzbunkers und des neuen Rechenzentrums (Kabel, Schächte, Leitungen usw.) sind nur für Kenner:innen zu unterscheiden. Ich stelle mir vor, dass es für Archäolog:innen in fünfhundert Jahren eine interessante Aufgabe sein wird, die versunkenen Schichten technischer Infrastrukturbauten abzutragen und zu identifizieren.

Der Brand eines Rechenzentrums des Cloud-Anbieters OVH bei Strassburg im Frühling 2020 zeigt die uralte Gefahr des Feuers und ganz generell die Fragilität digitaler Infrastrukturen.

(Geo-)politische Dimension kritischer Infrastrukturen
Data Centers zählen heute zu den kritischen Infrastrukturen, die durch Sicherheitsmassnahmen geschützt werden müssen. Es ist auffällig, dass die Szenarien, die in den Projektbeschreibungen des Rechenzentrums Stollen Luzern vermittelt werden, wieder bei der nuklearen Bedrohung ansetzen. Da wird etwa auf den harten Stein und die solide Bauweise hingewiesen, die einen siebenfachen atmosphärischen Überdruck aushalten würden. Der Brand eines Rechenzentrums des Cloud-Anbieters OVH bei Strassburg im Frühling 2020 zeigt die uralte Gefahr des Feuers und ganz generell die Fragilität digitaler Infrastrukturen. Das Feuer in Strassburg erinnert daran, dass die sogenannte ortslose Cloud auf ganz konkreten Standorten fusst und dass Back-up-Lösungen an verschiedenen Orten zu Überlebensbedingungen der digitalen Welt geworden sind. Zudem ist die Standortfrage durch die zunehmende Renationalisierung der Cloud wieder zentral geworden. Schweizer Unternehmen versuchen sich im internationalen Umfeld deshalb auch gerne wieder mit Bildern aus der Mottenkiste der Geschichte der Schweiz anzupreisen – mit Bergen und Bunkern, die Diskretion, Neutralität und atomkriegssicheren Schutz garantieren. Dennoch ist die Technologie, die in den Data Centers schlummert, sehr divers und umfasst lokale, schweizerische und internationale Firmen. Bei meinen Besuchen in verschiedenen Data Centers in der Schweiz bin ich noch vor der Eskalation des Handelskrieges zwischen den USA und China im Frühjahr 2018 (als der Firmenname Huawei auch in der Schweiz zu einem politischen Kampfbegriff avancierte) auf schweizerisch-chinesische Verbindungen in technischen Lösungen gestossen, die im geopolitisch hoch aufgeladenen Klima zurzeit von den Betreiber:innen von Data Centers eher verborgen werden. Die vordergründig rein technischen Infrastrukturen wie Atombunker und Data Centers haben immer auch eine politische Dimension. Und auch die modernsten Technologien des digitalen Zeitalters greifen auf Symbole und Denkmuster aus der Geschichte zurück. Die Nutzer:innen von Daten delegieren politische Fragen, technische Risiken und Umweltanliegen gerne an die IT-Unternehmen und wollen eigentlich gar nicht allzu viel wissen.

Ich werde nächsten Frühling wohl wieder mal zum Wartegghügel spazieren und bin schon gespannt auf die Landschaft in Blütenpracht vor weiss gezuckerten Bergen. Inzwischen habe ich nämlich erfahren, dass das Rechenzentrum Stollen im Frühling 2022 voraussichtlich seinen Betrieb aufnehmen werde. Und dass bereits einige Mietverträge für die verbleibenden 1845 Quadratmeter im Innern des Wartegghügels abgeschlossen seien.

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Monika Dommann ist Historikerin und Professorin an der Universität Zürich.

«Data Centers. Edges of a Wired Nation»
Monika Dommann, Hannes Rickli und Max Stadler
Lars Müller Publishers, 2020

Text: Monika Dommann
Bild: Finn Curry

Dieser Beitrag erschien in 041 – Das Kulturmagazin im Dezember 12/2021.

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