Das intime Leseereignis neu entworfen

Neubad, Luzern, 02.11.2017: Im schummerigen Halbdunkel des Neubadkellers ist gestern die Lesungsreihe «Die Stunde der wahren Empfindung» in ihre vierte Runde gegangen. Flurin Jecker und vier weitere Lesende haben mit ihren Erzählungen erforscht, wie sehr persönliche Geschichten einen Menschen formen und prägen. Moderiert und die einzelnen Texte einander nähergebracht hat Lina Kunz.

Dem klassischen Format der Wasserglaslesung stellen sich immer wieder dieselben Herausforderungen. Literatur als eine der privatesten Künste ist nicht ohne Schwierigkeiten in die Öffentlichkeit zu stellen, entsteht sie ja sozusagen im Zurückgezogenen und wird auch meist im Stillen konsumiert. Fragen an das richtige Format sind dabei immer wieder Thema: Wie lässt sich gerade eine etwas jüngere Leserschaft ansprechen, wie sind Publikumszahlen zu erreichen, und wirken länger vorgelesene Passagen nicht zu ermüdend, wenn die Mehrzahl der Besucher*innen das Buch bereits im Vorfeld gelesen hat und im Grunde nur da ist, um die Schreibenden einfach mal zu «erleben»?

Der Ruf des Verstaubten und Vertrockneten eilt Literaturveranstaltungen noch immer voraus, auch wenn innovative, kreative Konzepte zurzeit wie Pilze aus der Erde schiessen. Sie alle zeigen, dass Literatur auch in der Öffentlichkeit viel mehr kann, als im altertümlichen Ambiente rezitiert zu werden.

Wie das ganz besonders gut gelingen mag, führt die Lesungsreihe der Veranstalter des Neubads «Die Stunde der wahren Empfindung» raffiniert vor.

Im Neubadkeller ist es dunkel, nur das warme Kerzenlicht flackert auf den vereinzelt platzierten Tischchen. Der Anblick erinnert fast ein bisschen an einen Jazzclub aus den Fünfzigern. Die Bar ist offen, von der Bühne schlängelt sich blauer Dunst zur Decke empor, im Hintergrund erklingt elektronische Musik. Noch niemand hat gelesen – und doch herrscht bereits eine erfrischende Andersartigkeit zum gewohnten Lesungsklima. 

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Zu diesem Zeitpunkt wissen die meisten der Zuhörenden noch nicht, wer ausser Flurin Jecker diesen Abend seinen Text vortragen wird. Nebst einem bekannteren Autorengesicht – es waren bereits Meral Kureyshi, Michelle Steinbeck und Julia Weber zu Gast – sind jeweils vier weitere Schreibende eingeladen, deren Texte sich an einem vorgegebenen Motiv – heute «verliebt» – orientieren. Bewerben können sich im Grunde alle, die schreibend erzählen, experimentieren, versuchen oder träumen. Zwölf Minuten lang steht den Einzelnen die Bühne und das aufmerksame Ohr der Anwesenden zur Verfügung.

Erstversuche und länger Erprobtes mit einem Publikum geteilt haben gestern Nora Kunz, Norah Steiner, Emanuel A. Kriemler und Rahel Ester. Dabei wurde erzählt von einer von Fernweh geplagten Frau, die zwischen der Liebe zu ihrem Mann und dem Reisen entscheiden muss, einer Frisörin, die im kleinbürgerlichen Milieu ihres Dorfes festsitzt, oder von Rolf, dem die Liebe nicht vergönnt wird.

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Höhepunkt bildeten humorvolle und aufheiternde Textpassagen aus Flurin Jeckers Debüt «Lanz». Im Stil der mündlichen Jugendsprache erzählt Lanz, ein vierzehnjähriger Junge, von der Zeit, «in der man nichts darf, aber alles will». So authentisch, so unverblümt und selbstverständlich der Ton, in dem der sofortige Symphatieträger Lanz die Welt reflektiert. Jecker musste bald selber mit dem herrlich-ehrlichen Fabulieren seines Helden mitlachen.

Gerade das Kontrastverhältnis hat verdeutlicht, wie komplex und anspruchsvoll es ist, originale Literatur zu produzieren. Denn auch wenn viele der gestern vorgetragenen Texte durchdacht und eloquent formuliert waren, haben sich einige in ihrer Gestaltung inhaltlich als auch sprachlich stark aus repetitiven Mustern, Stereotypen und vorgefertigten Schemata zusammengesetzt. In «Lanz» hingegen, das wurde schnell deutlich, erzählt eine eigene Stimme glaubwürdig aus dem Innersten.

 

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Dass bei einem Lesungskonzept, wie diese Reihe es nun betreibt, immer auch das Risiko mitschwingt, unausgereiften und vielleicht auch weniger interessanten Texten zuzuhören, ist unvermeidbar. Trotzdem ist gerade reizvoll, dass eben nicht nur «Profis» eine Bühne geboten wird, sondern auch Texte ausgestellt werden, die gerade der Austausch mit einem Publikum weiter befruchten und vorantreiben kann.

Mit Überraschungseffekten, kurzweiligen Lesesequenzen, Abwechslung, einem interessierten Publikum (fünf Lesende bringen im Grunde allein mit ihrem Freundeskreis eine gemütliche Gruppe zusammen) und einem etwas verruchten Ambiente werden Lesen und Zuhören im Neubadkeller tatsächlich zu einer Stunde der wahren Empfindung.