Das göttliche Ereignis des Erotischen

Je mehr Erotisches verfügbar gemacht wird, desto mehr scheint die Erotik verloren zu gehen. Viele suchen deshalb nach einer Erotik, die nicht auf das Äussere, das Körperliche, das Sexuelle reduziert ist. Unser Autor Michel Rebosura begibt sich auf die Spuren der Erotik – dort, wo wir sie am wenigsten vermuten: im Kloster.


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Intra muros
Hinter den Klostermauern herrscht keine kontemplative Stille, sondern lautstarkes Treiben: Im Klostergarten auf dem Wesemlin-Hügel wird gerade ein mehrstöckiges Wohnhaus gebaut

Im Hauptgebäude empfängt mich Bruder Willi Anderau, der Guardian der Kapuziner. Zu meiner Überraschung nicht im Habit, in der braunen Mönchskutte mit der namensgebenden Kapuze und der weissen Kordel, sondern in Zivil. Er möge den Habit nicht so sehr und ziehe ihn deshalb nur für hochoffizielle Anlässe an. Bereitwillig führt er mich durch das Kapuzinerkloster, das 1584 dank dem Luzerner Ratsherrn Kaspar Pfyffer auf dem Wäsmeli erbaut worden ist. Neugierig und staunend folge ich Bruder Willi durch den Kreuzgang, den Inneren Chor, die Klosterkirche und die Bibliothek. Ora et labora et lege (lateinisch für «Bete, arbeite und lies»): In freiwilliger Armut, Ehelosigkeit und im Gehorsam führen die Ordensleute «um des Himmelreiches willen» ein weltabgewandtes, spirituelles, gottgeweihtes Leben. So das Bild.

Gottesliebe ist Menschenliebe
«Was ist für Sie Erotik?», frage ich ihn direkt zu Beginn des Gesprächs. «Das Gleiche wie für Sie.» Wir lachen. Dann führt er etwas aus: «Liebe (eros) ist einer der mehrdeutigsten Begriffe. Wir können zwischen körperlicher, seelischer und göttlicher Liebe (agape) sowie Nächstenliebe (caritas), Elternliebe und anderen Formen unterscheiden. Aber am Ende hat es immer mit der Beziehung zu jemand anderem zu tun. Auch die Beziehung zu Gott läuft über Menschen. Ich kann Gott nicht abstrakt lieben. Ich muss ihn in dieser Welt im Menschen lieben. Ich muss Gott mit meinem Körper begegnen.»

Sexualität als Sünde
Das Bild ist also komplexer. Die Leib- und Lustfeindlichkeit in der christlichen Tradition sei einerseits ein verbreitetes Klischee, andererseits ein tatsächliches Problem. Dieses sei zu einem grossen Teil auf den Kirchenvater Augustinus (354–430 n. Chr.) zurückzuführen. Aus biografischen Gründen habe er die in der antiken griechischen Philosophie vorgeprägte lustfeindliche und seelenfreundliche Form der Liebe ins Extreme getrieben und verabsolutiert. Diese Lehre floss in die Tradition der Kirche ein, so dass in der christlichen Kultur alles, was mit Sexualität zu tun hatte, «Sünde» war, es sei denn, es hatte mit «Kindermachen» zu tun. «Eine sehr verhängnisvolle Entwicklung», schliesst Bruder Willi.Dann wird er noch deutlicher: «Man sprach dann von ‹reiner Liebe›, völlig losgelöst von urmenschlichen Bedürfnissen. Oder Liebe nur noch als selbstloses ‹Dienen am anderen› – ja, Pfiffedeckel! Liebe ist eine Beziehung, in der beide etwas davon haben müssen, sonst ist etwas nicht gut.»

«Die körperlich-erotische Ebene gibt dem Menschen natürlich sehr viel Befriedigung zurück. In einer Partnerschaft, die bereits 40 oder 50 Jahre währt, lebt die Beziehung aber vielleicht nicht mehr so stark auf dieser Ebene. Die Liebe verändert sich, ‹reift›. Doch wehe, die Erwartung an die Liebe wird nur auf das Körperlich-Erotische reduziert.
 

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Bild: Hannah Grüninger


Der fast 80-jährige Bruder Willi redet unverblümt von der «Zumutung des Alterungsprozesses». Womit er etwas anspricht, das nicht nur den Hl. Augustinus existentiell beschäftigte, sondern uns alle früher oder später beschäftigen wird: «Wir Menschen sind der Zeit unterworfen. Wir können deshalb nie alles gleichzeitig haben, sondern uns nur weiterentwickeln, ‹reifen›.»

Freundschaftliche Liebe
Die augustinische Lehre der «reinen Liebe» prägte die christliche Vorstellung von Keuschheit, Enthaltsamkeit und nicht zuletzt auch Ehelosigkeit (Zölibat). Dazu Bruder Willi: «Die zölibatäre Lebensform gibt es ja nicht nur im Kloster. Niemand ist verpflichtet, zu heiraten. Doch hier wählt man sie freiwillig. Im Orden verzichten wir jedoch nicht auf Liebe, sondern nur auf die Ausübung der Sexualität mit Partner:innen.» Dafür werde die geschwisterliche oder freundschaftliche Liebe (philia) zur Herausforderung und Aufgabe. «Bei unserer Klostergemeinschaft kamen die Menschen freiwillig zusammen, doch konnten wir uns gegenseitig nicht aussuchen. Auch ich mag nicht jeden gleich gern. Die Kunst der Geschwisterlichkeit besteht im Aufbau einer Beziehung, in der der andere respektiert wird und beide etwas davon haben. In dieser ereignet sich auch die Liebe von Gott zu uns Menschen.»

Das Leben in Gemeinschaft biete auch Vorteile. Während viele Menschen gerade im hohen Alter an Einsamkeit litten oder im Altersheim versorgt würden, seien sie in der Gemeinschaft aufgehoben. Natürlich bringe das Gemeinschaftsleben eigene Probleme mit sich. «Es gibt nicht die heile Welt.»

Sexuelle Revolution
So direkt sich Bruder Willi zum Habit äussert – er kritisiert auch Distanz schaffende Kleidung, die einen «besseren», den Klerus-Stand signalisiere –, so auch zu anderen Themen: «Sexualität ist eine Gabe Gottes wie andere körperliche Triebe auch – die aber auch missbraucht werden kann.» Oder: «Plötzlich merkt auch die Kirche, Gott hat nicht nur heterosexuelle Menschen geschaffen, sondern auch homosexuelle, asexuelle oder transsexuelle Menschen. Ja, wenn das Natur ist, dann kann es nicht schlecht sein.»

 

Das Leben in Gemeinschaft biete auch Vorteile. Während viele Menschen gerade im hohen Alter an Einsamkeit litten oder im Altersheim versorgt würden, seien sie in der Gemeinschaft aufgehoben. Natürlich bringe das Gemeinschaftsleben eigene Probleme mit sich. «Es gibt nicht die heile Welt.»

 

Selbst zum Zölibat, das er selbst befolgt, sagt er entschieden: «Zölibat muss etwas Freiwilliges sein. Dafür stehe ich unbedingt ein. Zölibat sollte auf keinen Fall Pflicht sein.» Und er besteht auf absoluter Gleichberechtigung: «Darüber muss man gar nicht diskutieren.» Radikal ist auch seine Haltung dem Klerus gegenüber: «Es braucht keinen eigenen Stand, um das Evangelium zu verkünden. Sie sollen mal abfahren mit dem Klerikerstand, dann ergibt sich das Problem der Gleichberechtigung und des Zölibats von selbst.»

Sexpositive Religion
Religionswissenschaftlerin Dr. Anna-Katharina Höpflinger – die kürzlich am Unfrisiert Festival zum Thema «Warum sind Religionen sexfeindlich?» sprach (siehe 041 – Das Kulturmagazin vom Februar 2022) – findet genau solche Innenansichten extrem wichtig. «Wenn man an ‹Kirche› denkt, dann denkt man an den Papst, die Autoritäten, die reine Lehre. Doch die Kirche ist viel breiter. Wenn man den Blick ändert, dann wird es wahnsinnig komplex, ja widersprüchlich: Religionen sind gleichzeitig körperfeindlich und körperfreundlich und zu allen Zeiten gab es offenere und geschlossenere Gruppen. Das Faszinierendste an Religionen ist gerade diese Widersprüchlichkeit. Und ich denke, wir dürfen diese auch nicht auflösen.»

Bei der Frage nach der Erotik in der Religion müssten wir uns immer fragen: «Wie definieren wir welche Art von Erotik oder Sexualität in welcher Kultur?» Lange Zeit hätte man in der europäischen Religionsgeschichte unter Sexualität vor allem «Penetration mit Penis» verstanden, so dass etwa das Händehalten oder Küssen von Männern oder Frauen nicht als etwas Sexuelles betrachtet, sondern als Gesten geschwisterlicher Freundschaft wahrgenommen wurden. Auch im Kloster hätten gewisse Formen von Erotik ihren Platz gehabt, einfach weil sie nicht unter die Definition von Sexualität fielen.

«Leben wir heute in gewisser Hinsicht sogar in einer prüderen Welt?», frage ich. «Vielleicht leben wir in einer Welt, die sehr viele Kisten will. Man muss etwas sein. Und nichts anderes.» Eine Welt also, die keine Widersprüche und Mehrdeutigkeiten mehr zulässt, kurz, eine Welt ohne «Ambiguitätstoleranz».

 

«Leben wir heute in gewisser Hinsicht sogar in einer prüderen Welt?», frage ich. «Vielleicht leben wir in einer Welt, die sehr viele Kisten will. Man muss etwas sein. Und nichts anderes.»

– Dr. Anna-Katharina Höpflinger

 

Der Konsum der Erotik und die Erotik des Unverfügbaren
Im Kapitalismus wird Liebe auf Romantik und Erotik auf Porno reduziert. Das steril Zurschaugestellte wird zugelassen, weil so jede andere Ware einfach konsumiert werden kann. Doch der «Konsum der Romantik» (Eva Illouz) gewährt nur eine Scheinbefriedigung und letztlich versagt die eigentliche Erfüllung. Die «Kulturindustrie ist pornografisch und prüde», wie Adorno und Horkheimer schrieben. Sie hinterlässt eine Leere, die nie gefüllt werden kann – und deshalb immer intensivere Gefühle sucht.

In unserer Optimierungsgesellschaft wird verlangt, dass wir unsere Körper immer besser, fitter, achtsamer, glücklicher und produktiver machen. Und schöner, denn unser «erotisches Kapital» wird auf dem omnipräsenten Heiratsmarkt ständig bewertet. Auf der Basis unserer Vorlieben wählen wir selbst oder mithilfe von Algorithmen die beste aller Optionen aus. In der Erwartung eines perfect match, von sofortiger Befriedigung, intensiven Gefühlen, höchstem Glück, Liebe. Alles andere ist eine Enttäuschung. Was folgt, ist Frustration oder Langeweile. Und die Suche nach einer besseren Option – weil es immer eine noch bessere Option geben könnte.

Das Bestreben, möglichst viele, vollkommene und immer intensivere Optionen zu konsumieren, hat auch etwas Kontrollierendes, wodurch der Raum verloren zu gehen droht, in dem etwas Unkontrolliertes geschehen könnte.

Um nochmal Bruder Willi zu Wort kommen zu lassen: «Ein Konsument möchte über alles verfügen. Liebe hat immer etwas Unverfügbares. Über den Partner vis-à-vis kann ich nicht verfügen. Wenn Liebe eine Beziehung ist zwischen zwei Polen, dann kann ich über den anderen Pol nicht verfügen. Die Gegenliebe ist ein Geschenk. Unverfügbar. Die Karikatur der Liebe möchte über den anderen verfügen. Wenn ich die Liebe nur noch konsumiere, dann ist der andere nur noch ein Objekt, von dem ich mir nichts mehr schenken lasse, ein Mittel, das ich nur noch benutze. Echte Liebe hat immer auch das Unverfügbare. Und das macht das Leben schön. Ich lasse mir vieles im Leben schenken.»

Der Verzicht auf das Verfügenwollen scheint also die Voraussetzung für die Kunst des Liebens, der Erotik zu sein. Die Fähigkeit, Raum für das Unverfügbare zu geben, um das Erotische ereignen zu lassen. Doch sind wir dazu auch bereit?


041 – Das Kulturmagazin Mai 05/2022

Text: Michel Rebosura
Bild: Hannah Grüninger

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