«Das gehört verschwunden!»

Reden kann er, der Roger Willemsen, schreiben auch. Dass Tiefe und Unterhaltung einander auch nahe sein können, demonstrierte der Autor, Moderator, Publizist und – seit 2010 – Honorarprofessor der Humboldt Universität Berlin eindrucksvoll bei seinem Auftritt im Luzerner Kleintheater. 

Auf Roger Willemsen stiess ich via das Buch «Gute Tage», in dem er «Menschen und Orten» begegnet. Unter anderem dem japanischen Kannibalen Issei Sagawa, der 1981 die holländische Literaturstudentin Renée Hartevelt in Paris erschoss und Teile ihrer Leiche verspeiste, bevor er sie sehr ungeschickt in einem Park in Koffern zu versenken versuchte. Durch einen Trick kam er nach kurzem Aufenthalt in psychiatrischer Obhut frei und lebt seither in Tokio als Schriftsteller und Gourmetkritiker. Ausserdem spielte Sagawa in einem erotischen Film mit. Doch darum geht es jetzt nicht, sondern um «Momentum», das jüngste Werk und Programm Willemsens. «Wenn man sein Leben nicht verlängern kann, so kann man es doch verdichten», liegt als Credo dem Buch zu Grunde, in dem sich Willemsen erinnert. Nicht akribisch, sondern assoziativ. Nicht intellektuell, sondern intensiv. Es hat etwas Fragmentarisches, vielleicht die einzige Form, in der sich Literatur heutzutage an die «Wirklichkeit» wagen kann. Willemsen wechselt zwischen Erzählen und Lesen, der Auftritt wirkt, obwohl exakt durchgeplant, spontan. Er erzählt die Geschichte – die ihm wiederum ein Strassenjunge berichtete –  vom Mann, der auf seinem Bauch einen Gecko aushungerte, der sich da festgekrallt hatte, weil er da drauf gefallen war und Geckos auf menschlicher Haut nicht gehen können. Er erzählt, wie er sein junges Ich auf der Schallplatte einer Londoner Jazz-Combo «More!» rufen hörte. Er erzählt, wie er als Nachtwächter jobbte. Wie ihn der graue Anzug störte und die einzige Möglichkeit zur Rebellion neonfarbene Socken waren. «Das gehört verschwunden!», herrschte ihn der Vorgesetzte an. Seither trage er diesen Satz ständig mit sich herum. Und bei jedem unangenehmen Anblick – von TV-Talkshows bis weissichwas – wirkt er wie ein lindernder Zauberspruch. «Das gehört verschwunden!» Und weg. In der Nacherzählung klingt das furchtbar banal. Dieses persönliche Erinnern, das Zurückfinden in Momente, die irgendwie irgendwas verändert haben. Aber gerade dieses banale, diese scheinbaren – im wahrsten Sinne des Wortes – Abfälle, haben eine irrsinnige poetische Magie inne. So sitzt man im Theatersaal, lauscht gefesselt den Ausführungen, diesen Geschichten, die nicht mehr sein wollen als sie sind und schwupps ... 90 Minuten um. Fussball ist da ungemein zehrender. Willemsen sagte einst, das einzige was er tun könne (um eine Frau ins Bett zu kriegen, Anm. d. Red.) sei, sie besinnungslos zu quatschen. Nach dem Abend im Kleintheater hatte man eine Ahnung, wie er das anstellt.

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