Bühnenreife Zeitgeschichte

Der Schweizerische Bühnenkünstlerverband hat sich zum 100. Geburtstag von Thomas Blubacher die eigene Verbandsgeschichte aufzeichnen lassen. Der Autor erzählt in dem schmalen Band aber weit mehr als diese.

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In geradezu irrwitzigem Tempo schafft es der Theaterwissenschaftler Thomas Blubacher gleich auf der ersten Seite, seine Leserschaft ins Jahr 1920 zu schleudern: Schlacht um Warschau im Polnisch-Sowjetischen Krieg, Präsidentschaftswahlkampf in den USA, ebenda das Stimmrecht für weisse Frauen, in Zürich gibt es am 18. August 1920 derweil «Trübungen und von Gewittern eingeleitete Niederschläge». Die Freilichtaufführung im Dolderpark wird abgesagt – was Kapellmeister Max Conrad gefreut haben dürfte, mutmasst mit Fug und Recht Thomas Blubacher. Denn Conrad ist gerade dabei, den Verband der Bühnenkünstler in der Schweiz mitzugründen. Bäm! – so geht das, wenn man Verbandsgeschichte erzählen will, ohne dass einem die Leserschaft nach dem ersten Absatz wegdöst.

Gegliedert in sechs Kapitel erzählt Thomas Blubacher im Folgenden chronologisch die Geschichte des Verbands. Diese ist – wenig überraschend – geprägt vom ewigen Kampf um bessere Arbeitsbedingungen; mal gibt es Siege zu feiern, dann wieder Rückschläge zu verarbeiten. «Es gibt eben nicht nur die künstlerische Freiheit, es gibt auch soziale Verantwortung», wird der langjährige Geschäftsleiter des Verbands, Rolf Simmen, zitiert, der damit auf den Punkt bringt, um welches Gleichgewicht der Verband stets bemüht bleibt.

Fast schon spöttisch wird’s, wenn die «gelinde gesagt unordentliche» Buchführung eines Gründungsmitglieds geschildert wird.

Blubacher hütet sich erfolgreich davor, in Lobhudelei zu verfallen: Beleuchtet werden auch interne Querelen und Machtkämpfe mit anderen Berufsverbänden und Gewerkschaften. Der Ton des Buches ist geprägt von der spürbaren Liebe des Autors für die Bühne sowie von seinem feinen Humor; fast schon spöttisch wird’s, wenn die «gelinde gesagt unordentliche» Buchführung eines Gründungsmitglieds geschildert wird.

Packend ist das Buch nicht zuletzt, weil es die Geschichte des Verbands in historische Zusammenhänge einbettet. Er zeigt auf, wie grenzübergreifend Theaterschaffende schon vor hundert Jahren agierten, wie die Weltpolitik Rassismus und Antisemitismus auch in der Schweiz anpeitschte und welche Auswirkungen das hierzulande auf Bühnenkünstler hatte. Wer wenig mit Theatervolk anfangen kann, wird sich dennoch nicht langweilen; exemplarisch wird nämlich aufgezeigt, wie hundert Jahre Engagement für anständige Arbeitsbedingungen aussehen, bis hin zu Mitgliederschwund und Subventionsbürokratie als Phänomene, mit denen Berufsverbände heute zu kämpfen haben. Und dann, auf der allerletzten Seite, taucht Corona auf. Und gibt dem abschliessenden «Es bleibt spannend!» eine Schwere, die man dem Verband zum 100. Geburtstag nicht gewünscht hätte.

Thomas Blubacher: Die Kunst geht nach Brot. 100 Jahre Schweizerischer Bühnenkünstlerverband.

Sachbuch. Chronos Verlag, 2020. 144 Seiten, Fr. 29.00