Aussteiger ohne Ankunftsort

Die Macher des Erfolgsfilms «Rue du Blamage» liefern mit «Kühe auf dem Dach» ein neues Werk, das Aussenseiter in den Fokus rückt. Anstatt im Problemviertel hausen diese Abgehängten auf einer Tessiner Alp. Eine zweistimmige Rezension zur stimmungsvollen Dokumentation.

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lov.: Was für ein schöner Film, was für ein deprimierender Film. Nur, um was geht’s da eigentlich? Aldo Gugolz begleitet über mehrere Jahre Fabiano, den Sohn einer Aussteigerfamilie, der auf einer Alp hoch oben im Onsernonetal Käse produziert. Erzählt wird über die Beziehung zu seinem Vater und später dann auch Sohn, der im Verlauf des Films geboren wird.

pze.: Und dann geht es da auch um diesen mysteriösen Todesfall. Nachdem Gugolz schon begonnen hat mit den Dreharbeiten, stirbt zufällig ein Schwarzarbeiter, der zuletzt auf der Alp sein Geld verdiente – und bringt sowohl Fabiano wie auch den Film durcheinander. Die Tragödie prägt Fabiano, beeinflusst sein Verhalten gegenüber seinen Mitarbeitern auf der Alp.

lov.: Entlang dieser Beziehungen und Ereignisse erzählt Aldo Gugolz auch über Wert und Werte: den Wert von Arbeit, Familie, von Menschenleben, aber eben auch über Werte wie Freiheit und Sicherheit.

pze.: Abgesehen davon spricht der Film über die Themen Herkunft und Identität: Wie prägte die Kindheit in der drogenversifften Kommune den Protagonisten? Welchen Rucksack wird Fabiano wiederum seinem Sohn mitgeben?

lov.: Der Film schneidet unheimlich viele Themen an. Welchen Wert hat Arbeit, fragt man sich, wenn Fabiano verzweifelt versucht, seinen mühselig in Handarbeit hergestellten Käse zu verkaufen. Dann geht’s wieder um Alkoholismus, Fabiano erzählt von seinem Kater nach einer Flasche Whiskey, seine Frau verzweifelt in einer Szene daran, wie sehr der Alkohol das Leben der Menschen im Tal beherrscht.

«Langweilig wird der Film keine Minute, nur: Was bleibt am Schluss davon?»

Anna Chudozilov

pze.: Interessant ist der Umgang mit Sprachen. Die Hauptfigur spricht sowohl den lokalen Dialekt als auch Schweizer Mundart, sowohl im Alltag wie auch gegenüber der Kamera. Fabiano scheint unbewusst zu wechseln, manchmal zwischen zwei Sätzen. Integriert in die Talgesellschaft scheint er deshalb trotzdem nicht zu sein – die Partnerin, die Mitarbeiter, alle stammen aus der Deutschschweiz. Er scheint nicht nur Aussteiger zu sein, es wirkt, als stehe er allein in diesem Tessiner Tal – dieser Eindruck verstärkt sich noch nach dem Todesfall.

lov.: Langweilig wird der Film keine Minute, nur: Was bleibt am Schluss davon? Irgendwie bleibe ich etwas ratlos zurück, mit vielen offenen Fragen. Auch, weil der Todesfall ganz am Ende nochmals eine neue Wendung bekommt, plötzlich steht Mord im Raum. Und dann ist Fertigschluss. Irgendwie bringt dieses tragische Ereignis den Film aus dem Gleichgewicht. Entweder hätte er mehr oder weniger Raum bekommen sollen.

pze.: Ja, der Film verzettelt sich. Zu all den genannten Themen kommen ja noch Medienkritik und Traumabewältigung. Oder Darstellung und Rolle des Wetters. Dabei wäre die Anlage der Dokumentation perfekt: Gugolz beweist sein Gespür für gute Protagonisten, kann ihm vieles entlocken – und zeigt ihn als ehrlichen, etwas verkorksten Chrampfer. Doch Fabiano hätte wohl noch viele weitere Geschichten zu erzählen, denen durch die aktuellen Geschehnisse der Platz streitig gemacht wird im Film.

Anna Chudozilov (lov.) und
Pascal Zeder (pze.)

Innerschweizer Filmpreis: Streaming-Portal
bis SO 7. März
Online

Der Film wurde produziert von revolumenfilm (Luzern), Christina Caruso, Aldo Gugolz sowie Rough Cat Lugano, Nicola Bernasconi

Festivals :

Prix du Jury, Visions du Réel 2020
Visions du Réel on tour 2020
Zuger Filmtage 2020
Solothurn Filmtage 2021

Peloponnisos international documentary festival 2021