Ausnahmezustand und Alltag

B74, Luzern, 13.03.2020: Das Magazin _957 feiert die 100. Ausgabe mit der Ausstellung «TOWN-HO». Das ist gleichzeitig eine gute und eine schlechte Idee.

Es gibt mindestens drei Antworten auf die Frage, ob diese Jubiläums-Ausstellung des Magazins «_957» eine gute Idee ist. Die Kurzversionen lauten: Nein. Ja. Vielleicht. Die jeweiligen Argumente können dabei nicht verschiedener sein und das ist aber wohl nur angemessen in diesem März 2020, der sich zwischen Ausnahmezustand und den ganz normalen Zumutungen des Alltags bewegt.

TOWN HO

Doch worum geht es? Für die 100. Ausgabe des «_957 Independent Art Magazine» bot der Herausgeber Stephan Wittmer Künstler*innen aus der Zentralschweiz Rohlinge eines Heftes für individuelle Auseinandersetzungen an. Herausgekommen sind dabei um die 160 Versionen, die vom 13. bis 15. März im B74 Raum für Kunst zu sehen sind. Die Ausstellung ist betitelt mit «TOWN-HO» und eröffnet am 13. März mitten in die Meldungen zu immer neuen Massnahmen gegen eine zu schnelle Ausbreitung des Coronavirus.

Nein, die Vernissage ist keine gute Idee.

Machen wir es kurz: Unter der derzeitigen Informationslage ist die Ausstellungseröffnung eine schlechte Idee. Ich selber habe mir die Ausstellungsräume am Nachmittag vor der Eröffnung angesehen, weil ein Besuch zu riskant für mich und andere Personen war. Wenn nur ein Bruchteil der beteiligten Künstler*innen anwesend sein sollte und ein paar Freund*innen mitbringt, tummelt sich schnell eine grössere Menge um die Klapptische, auf denen die Magazine ausliegen. Dann handelt es sich auch noch um ein Milieu, in dem sich gerne umarmt, geküsst und zugeprostet wird. Dann haben wir noch über einhundert Magazine, die noch von allen nacheinander angefasst werden sollen.

Ja, die Ausstellung ist eine gute Idee.

Abgesehen von diesen externen (aber eben existenziellen) Fragen ist das Konzept hinter der 100. Ausgabe von _957 überaus gelungen. Der Titel «TOWN-HO» bedeutet «Wal in Sicht» und Wittmer gibt als Inspirationsquelle Herman Melvilles Roman «Moby Dick» an. Die sechzehnseitigen Rohlinge zeigen bearbeitete Fotografien einer Meeresoberfläche und bieten so einen gewissen Assoziationsraum für die eingeladenen Künstler*innen an, der von Freiheit über Plastikmüllinseln bis zum Massensterben auf dem Mittelmeer reicht. Diese inhaltliche und konzeptionelle Ausrichtung wurde bereits von Tiziana Bonetti auf artlog, Susanne Holz in der Luzerner Zeitung und Jana Avanzini gelobt und kompetent aufgeschlüsselt.

TOWN HO

Während das Heftkonzept also überzeugt, weist die Ausstellung darüber hinaus explizit auf die Grenzen eines Printmediums hin. Wer sich in den Ausstellungsraum begibt und sich über die vielen Hefte beugt, erfährt Überraschung um Überraschung. Dabei wirkt der Heftteppich stellenweise wie ein Schlachtfeld. Die Rohlinge sind beklebt, bemalt, zerschnitten, eingepackt, zusammengerollt, auseinandergenommen, zusammengesetzt, beschrieben und besprüht. In den Heften finden sich Goldketten, immer wieder Fäden, elektronische Geräte, Schleifpapier, Blattgold, Polaroids und Zeitungsauschnitte.

Die 160 Einzelstücke werden zu einem wilden Skulpturenensemble und zeigen, welche Qualität Originale gegenüber Reproduktionen für etwa Magazine haben. Manche Stücke sehen so aus, als seien sie von Künstler*innen regelrecht bekämpft worden, um ihnen eine individuelle Note zu verleihen. Andere Versionen sind dagegen sehr zurückhaltend und respektieren zärtlich das Ausgangsmaterial.

town ho

Weil die Arbeiten sich alle auf den gleichen Rohstoff beziehen und ganz wunderbar auf einer grossen Tischfläche präsentiert werden, drängt sich so auch ein vergleichender Blick auf. Hier können Stile aber auch Künstler*innencharaktere (beziehungsweise Selbstbilder) gegeneinander gehalten werden. Wenn Wittmers allgemeines Konzept für _957 schon immer das komplexe Verhältnis zwischen Gleichheit und Differenz bespielt (die anderen Ausgaben des Magazins sind auch ausgelegt), wird diese Spannung in der Präsentation der Jubiläumsausgabe maximal sichtbar. Das aufgeschüttete Schaffen von Künstler*innen in der Zentralschweiz macht so einerseits eine beeindruckende Vielfalt gewahr. Andererseits zeigt sich aber über weite Strecken auch deutlich eine ziemliche Konventionalität in Techniken, Materialien und Stilen.

Vielleicht ist es das Konzept (k)eine gute Idee.

Wegen der schieren Menge der unmittelbar vergleichbaren Arbeiten, die alle so sehr nach Differenz und Einzigartigkeit streben, ist die Ausstellung und das Konzept auch nur vielleicht eine gute Idee. Ich musste sofort an Wittmers Projekt und die Ausstellung im B74 denken, als mich vor kurzem ein Artikel in der Jungle World auf Mark Fishers Text «No One is Bored, Everything is Boring» aufmerksam machte.

Fisher schreibt mit Blick auf allgegenwärtige Angst und Depression, dass ständige Lohnarbeit, ständiges Erleben, ständiger Konsum und ständige Information Langeweile heute praktisch unmöglich machen. Eine nervöse Beschäftigung mit uns selbst und der Welt lenke allerdings davon ab, dass die Inhalte und Formen dieser permanenten Arbeit, unzähligen Kulturprodukte, standardisierten Lüste und unaufhörlichen Gespräche für sich gesehen unendlich langweilig sind. Einerseits passiert also permanent etwas; das alles ist jedoch immer nur Wiederholung, Recycling oder einfach blanke Leere. Wenn so also in der Ausstellung TOWN-HO niemand jemals gelangweilt sein wird, sind doch einzelne Beiträge unendlich langweilig.

TOWN-HO
SA 14. und SO 15. März, jeweils 10-17 Uhr
B74 Raum für Kunst, Luzern