Aus der Marmelade des Grauens

Theaterpavillon Luzern, 20.02.2016: «Playstation» nennt sich das Gefäss des VorAlpentheaters, das seit 2012 in Kooperation mit dem Luzerner Theater jugendliches Laientheater fördert. Die diesjährige Produktion «Monster» des schottischen Dramatikers David Greig ist modern, unterhaltsam und tiefgründig. Genau das ist auch die «Playstation»-Umsetzung. Dank kongenialem Soundtrack des St. Gallers Marcel «Bit-Tuner» Gschwend und beachtlichen schauspielerischen Leistungen ist sie sogar noch etwas mehr.

Nasses, bewegliches Fleisch, das die Erde bekleistert. Nicht mehr und nicht weniger sind wir Menschen, heisst es im Stück. Eine «Marmelade des Grauens»: treffende Metapher – sie betont gleichsam den süssen Nektar des Lebens und seine dunklen Seiten. Auch «Monster» schafft den schwierigen Balanceakt, einen happigen Stoff zu versüssen – ohne in Klamauk abzudriften. Jules Gisler, Keziea «Kiki» Ndong und Natasha Sebben stellen sich zu Beginn des Stücks mit ihren echten Namen vor. Sie würden uns nun die Geschichte von Duck Macatarsney (Nina Duss) und ihrem Vater Duke Macatarsney (Iva Vaszary) erzählen. Duke, ein dauerbekiffter, Fast-Food-verfressener Ex-Biker mit Multipler Sklerose, kann seiner Tochter kaum ein einigermassen nahrhaftes Mittagessen kochen. Die Mutter? Bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen. Im ersten Drittel splitten Gisler, Ndong und Sebben das Innenleben und die Umgebung von Duck in Fantasien, Über-Ichs und märchenhaftes Prinzessinnengetue auf – banal-straightes Sprechtheater adé. In fesselnder theatralischer Detailarbeit zeigen sie die Welt eines abnormen Erziehungsgefüges und führen gleichzeitig den Begriff einer menschlichen Normalität ad absurdum. Ein innerer Schrei hier, ein mädchenhaftes Fantasma dort – dies ist definitiv keine gähnende Coming-of-Age-Story, sondern eine differenzierte Beschreibung der Ängste des Aufwachsens, die wir bis in den Tod mit uns mittragen. Diese Ängste manifestieren sich im weiteren Verlauf der Geschichte in der Sozialarbeiterin, die die Erziehungsfähigkeit von Duke prüfen möchte und sich selbst eine «Fee des Normalseins» nennt (Keziea Ndong), Ducks Theatergruppenschwarm Lawrence Lofthouse (Jules Gisler) und der von Duck mehr als unerwünschten norwegischen Anarchistin (Natasha Sebben), die Duke beim Online-Gaming kennengelernt hat.

12717789_1541009382865073_4481553883946562378_n

Es ist (auch) ein Theater des Zuhörens: Jeder Ton, jedes Geräusch, jeder Track sitzt, die Soundkulisse geht ins Ohr wie Butter und ist stets perfekt produziert. Dieser verrückte Bit-Schrauber sollte mehr Theater-, oder am besten Filmmusik machen! Einzelne Klänge werden von den Spielenden live mittels Sampler abgespielt, überhaupt werden technische Spielereien wie riesige Leinwandprojektion, Live-Video-Sequenzen oder obengenannte Sounds nicht als «Tricks» verwendet, sondern offen zur Schau gestellt. Annina Dullin-Witschi und ihre Inszenierung müssen sich nicht hinter solchen Spielereien verstecken, alles «verthebt» in sich. Und mittels einer derartigen «Offenheit» erhält das Stück eine sonderbar performanceistische Komponente, die für einige wunderschöne Momente sorgt: Wie Ducks Vater einen Joint raucht und sein bekifftes Gehabe auf Grossleinwand projiziert wird, währenddessen ein perfekt passender Reggae-Bit-Tune läuft, ist grandios gemacht.

12743728_1541009419531736_5317619437640318004_n

Kleine Verredereien, Fehler oder Missgeschicke werden gekonnt überspielt oder fallen überhaupt nicht auf (waren es gar keine?). Die Schauspielarbeit gleicht sich der präzisen Sound-«Vorlage» an und hält das Publikum über knappe eineinhalb Stunden bei der Stange. Keine langweilige Minute vergeht, subtile Gags werden von den Schauspielerinnen und Schauspielern gekonnt mit doppelbödigen Szenen aufgefangen und umgekehrt. Wenn herauskommt, dass der Vater von Duck nicht bis um 3 Uhr morgens Pornos schaut, sondern ein MMORPG (Massively Multiplayer Online Role-Playing Game) namens «Other World» spielt, möchte man weinen und lacht doch. «Monster» in der Ko-Produktion VorAlpentheater und Luzerner Theater ist Unterhaltung und Tiefgründigkeit balancierende Präzisionsarbeit, welches bei jugendlichem Laientheater in und um Luzern nicht selbstverständlich ist. Die körperlich-mimische Ausdrucksfähigkeit und Wandlungsfähigkeit der fünfköpfigen Truppe ist erstaunlich, in vielen Szenen gelingt die Kanalisierung der schauspielerischen Energien bis aufs letzte Wort und bis auf den letzten Schritt. Nicht ein einziges Mal wurde in den Zuschauerreihen des Theaterpavillons gequatscht, geraunt oder gestöhnt. Was ist normal? Und wenn ich nicht normal bin, bin ich dann weniger wert? «In einer Welt des Wahnsinns sind nur die Wahnsinnigen normal», sagte der japanische Regisseur Akira Kurosawa einst. Wenn es weniger Feen des Normalseins gäbe, wäre die Marmelade des Grauens garantiert etwas angenehmer – auf unterhaltsame Art und Weise wurde einem an der heutigen Premiere eine mehrfache Portion Tiefgründigkeit serviert. Chapeau, hingehen und staunen! («Monster» in der hier verwendeten Übersetzung von Barbara Christ wurde übrigens 2014 mit dem Deutschen Jugendtheaterpreis ausgezeichnet.)

«Monster». Eine Ko-Produktion von VorAlpentheater und Luzerner Theater. Weitere Aufführungen: FR 26., SA 27., SO 28. Februar, MI 02., FR 04., SA 05. März, FR 1. und SA 2. April, jeweils 20 Uhr, Theaterpavillon Luzern.  Regie: Annina Dullin-Witschi; Bühne: Viola Valsesia; Musik: Marcel Gschwend; Dramaturgie: Carmen Bach; Licht: Lukas Schumacher. Spiel: Nina Duss, Jules Gisler, Keziea Ndong, Natasha Sebben und Iva Vaszary.