Ariadne in der Theatergarderobe

Luzerner Theater, 19.04.2015: Regisseur Holger Müller-Brandes analysiert und psychologisiert in seiner Luzerner «Ariadne auf Naxos» das raffinierte Stück von Richard Strauss und zeigt das ganze Geschehen als den Wahn einer verlassenen und traumatisierten Frau. Es gibt keine Oper nach einem Vorspiel, sondern nur das rührende und quälende Spiel von einer Rückkehr ins Leben, um die sich eine ganze Theaterbelegschaft bemüht. Sängerisch hinterlassen die zwei Protagonistinnen unterschiedliche Eindrücke.

Die Oper «Ariadne auf Naxos» aus dem Jahre 1916 vom Komponisten Richard Strauss und dem Textdichter Hugo von Hofmannsthal ist formal ein musikhistorischer Scherz, ein komplexes Spiel mit den zwei Ausprägungen der damals längst schon historisch gewordenen Barock-Oper, nämlich der tragischen Opera seria und der komischen Opera buffa, welche sich in diesem Stück mehr und mehr zu stören, zu überschneiden und schliesslich zu mischen beginnen. Damit der Zuschauer auch begreift, weshalb er denn nun gewissermassen zwei Opern gleichzeitig präsentiert bekommt, ist der eigentlichen Oper ein «Vorspiel» vorangestellt, worin erklärt wird, aufgrund welcher kulturbanausischen Kalamität im Hause des «reichsten Mannes von Wien» es zu dieser Situation gekommen ist. Doch beim blossen musikhistorischen Spiel lässt es ein Hugo von Hofmannsthal natürlich nicht bewenden. Er konfrontiert in den zwei unterschiedlichen Genres und ihren jeweiligen Protagonistinnen auch zwei unterschiedliche Weisen des Umganges mit dem Phänomen der endenden Liebe, des Verlassenseins und der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, sich in der Folge erneut zur Welt und zum Anderen hin zu öffnen und sich auf ein neues Erlebnis einzulassen. Während die Devise der leichtfüssigen Zerbinetta sich in der Sentenz zusammenfassen lässt, dass wir uns wieder und wieder faszinieren lassen, sobald «der neue Gott gegangen» kommt, ist die verlassene Ariadne auf ihrer wüsten Insel in eine tiefe Depression verfallen, gewissermassen in ein Trauma des Verlassenwerdens, aus dem kein Ausgang hin zu Welt und Menschen mehr führt. Ariadne auf Naxos ist verkapselt, sie verweigert sich jeder Realität.

Nachspiel zum Vorspiel 

Genau damit, mit den Phänomenen Realitätsverweigerung und Verlorensein im eigenen Ich, was im Extrem Autismus bedeutet, spielt nun Holger Müller-Brandes, der Regisseur der Luzerner Produktion, auf vielfältige Weise. Zunächst einmal lässt er im 2. Teil keine eigentliche Oper namens «Ariadne auf Naxos» auf einer einsamen Insel spielen, sondern bleibt einfach in den Gardedroberäumlichkeiten des Vorspiels. Damit wird die Oper zum Nachspiel des Vorspiels. Es handeln weder Heroinnen noch Götter und Nymphen, sondern bloss Garderobieren, Maskenbildnerinnen, Putzfrauen und Inspizientinnen, dazu natürlich Primadonnen, Soubretten und Tenöre, das Personal halt, das wir aus dem Vorspiel kennen. Eine einzige meint, dass sie sich in einer «Grossen Oper» befinde, und das ist die Primadonna, die kurz zuvor von einem Liebhaber verlassen wurde. Wir ahnen sogar, wer ihr den Laufpass gegeben hat, wenn wir die zweimal gesungene Textstelle «Ich muss unbedingt den Direktor sprechen» im Lichte der ganzen Inszenierung auf diesen Interpretationsansatz hin lesen. Jedenfalls ist diese Dame ganz in ihr Leid versunken, nimmt offenbar die Welt um sich herum nicht wahr und lebt dafür in und mit der Emotionalität der ganz grossen Oper. Die Primadonna imaginiert sich als verlassene Ariadne, was den tiefenpsychologischen Ansatz des Textdichters Hofmannsthal radikalisiert.

Luzerner Theater; Ariadne auf Naxos

Ausweg aus dem Spiegelkabinett

Die Regie zeigt uns den Gegensatz zwischen abgeschotteter Innen- und der Aussenwelt zum Beispiel dadurch, dass zunächst der ganze Bühnenraum mittels einer grossen Spiegelwand, in der sich der Zuschauerraum und mithin wir selber reflektieren, in ein selbstreferentielles Kabinett ohne Ausweg verwandelt wird. Ganz am Schluss geht die Primadonna, die sich Ariadne nennt, mit ihrer neuen Liebe, dem Tenor, hinten durch die zur Strasse hin offene Materialrampe ab. Es ist ihr gelungen, aus der selbstimaginierten und -inszenierten Oper auszubrechen. Zudem wird während des ganzen Spiels immer wieder eine Soldaten- und Kriegswelt in den Kostümen des ersten Weltkrieges gezeigt. Das referiert einerseits auf die Entstehungszeit der «Ariadne auf Naxos» oder auch auf aktuelle Fernsehbilder, greift aber andererseits wiederum das Thema der Realitätsverweigerung auf, indem das «untere» Personal der Garderobieren und Gaukler sich auf diese Schreckenswelt einlässt, ja ihr gar angehört, während die Primadonnen, Komponisten und Musiklehrer sie gar nicht zur Kenntnis nehmen und statt dem realen Sterben ins Auge zu sehen lieber von Liebestoden schwärmen. Der ganze Abend zeigt in der Inszenierung von Holger Müller-Brandes durch Vorspiel und Nachspiel zum Vorspiel hindurch die Befreiung der Verlassenen, der Primadonna aus ihrem Eingeschlossensein hin zu neuem Leben und neuer Liebe.

Fingerfehler

Das kann bisweilen auch etwas gewollt und didaktisch wirken. So wollen sich die Symbole Spiegelkabinett, Soldatenwelt und imaginierte wüste Insel als Realitätsverweigerung nicht unbedingt zwingend zum Ganzen fügen. Auch passieren ob so viel inszenatorischer Ausdeutungslust gröbere Fingerfehler. Ein Komponist lässt nicht sein Partiturmanuskript achtlos auf den Boden blättern. Man redet nicht dauernd von der Rampe ins Publikum, wenn man sich eigentlich an andere Personen im Stück richtet. Ueberhaupt wird etwas viel an der Rampe herumgestanden, wobei zu sagen ist, dass der schauspielerisch Unbegabteste im Luzerner Ensemble für einmal nicht in seiner Rolle als singende Ständerlampe gezeigt wird, weil er die meiste Zeit auf dem Boden kriechen darf. Aber warum muss am Ende die lustige Zerbinetta so traurig von der Bühne verschwinden? Weil der Regisseur bei ihrer billigen und abgenudelten «Ich spiele immer die Fröhliche und bin doch so traurig»-Nummer die schamlose Koketterie nicht mitgehört, verstanden und mitinszeniert hat? Das würde dann höchstens mit der Jugend des Regisseurs zu erklären sein. Und warum nur geht die Zerbinetta mit einem dieser nostalgischen kantenverstärkten Koffer ab, die uns nun schon seit zwei Jahrzehnten sagen wollen, dass hier jemand unbehaust ist, und die uns schon genausolange nerven?

Luzerner Theater; Ariadne auf Naxos

Ungleichgewicht

Das umfangreiche Sängerinnen- und Sängeraufgebot der ansonsten ja eher nicht eben gross konziperten Oper konnte fast ohne Ausnahme mit Mitgliedern des Luzerner Ensembles besetzt werden, die sich wie immer auf hohem Niveau präsentieren. Besonderen Applaus verdiente und erhielt Marie-Luise Dressen in der Hosenrolle des Komponisten. Für die offizielle Hauptrolle der Primadonna/Ariadne wurde die Sopranistin Gabriela Scherer als Gast verpflichtet, welche mit wahrlich heroinenhaftem Organ und hohem Ausdruck die Produktion prägte. Es ist nicht fair von den Verantwortlichen im Haus, dass sie dieser tragischen Heldin nicht eine ebenbürtige Zerbinetta als lustigen Gegenpart an die Seite stellten. Die mörderischen Koloraturen dieser Partie machen gemeinhin bei den Aufführungen der «Ariadne» aus der komischen Figur die zweite, wo nicht gar die heimliche wahre Siegerin des Stücks. Die Zerbinetta müsste ihren Jubel mühelos, leicht und doch durchschlagend anschlagen können. Es heisst, ein Ensemblemitglied zu verheizen und zu denunzieren, wenn man es in dieser Situation und Rolle besetzt, wo es kein adäquater Gegenpart zum eigens eingeflogenen Gast sein kann. Schade. Und niederträchtig.  

Richard Strauss: Ariadne auf Naxos Musikalische Leitung: Howard Arman Inszenierung: Holger Müller-Brandes Vorstellungen: 25. April bis 7. Juni 2015