Ans Licht gezerrt

Ob Kriegstourist:innen oder Verschwörungstheoretiker:innen: «Die grosse Menschenschau» zeigt reale Menschen und ihren Einfluss auf unsere Gegenwart. Ein Gespräch mit den Theatermachern Damiàn Dlaboha und Christoph Fellmann.

«Die grosse Menschenschau» wurde 2018 erstmals im Schulhaus St. Karli in Luzern aufgeführt. Es handelt sich um Performances, in denen Schauspieler:innen reale Menschen spielen, an denen sich politische, soziale und popkulturelle Tendenzen unserer Gegenwart zeigen. Seither wurde das Repertoire der menschlichen Exponate stetig erweitert. Wie kam es zu diesem Projekt?

CF: Die Idee trug ich schon länger mit mir herum. Als ich noch Journalist war, habe ich immer wieder von seltsamen Personen gelesen, die einen grossen Einfluss auf uns haben, ohne dass wir überhaupt von deren Existenz wissen. Ich dachte, dass es interessant sein könnte, eine «Menschenschau» zu machen – eine Freakshow. Jedoch unter anderen Vorzeichen als die historische Prägung des Begriffs.

Mit «historisch» meinst du die Menschenschauen, in denen kolonisierte oder versklavte Menschen, aber auch Menschen mit Merkmalen, die man als «besonders» erachtete, wie in einem Zoo ausgestellt wurden.

DD: Unsere «Menschenschau» ist das Gegenteil dieser kolonialen Ausstellungen. Wir schauen nicht herablassend auf stereotypisierte Minoritäten, die objektiviert und «geandert», also als das «Andere» erklärt werden. Vielmehr zeigen wir Charaktere, die uns kontrollieren.

In euren Inszenierungen werden die Figuren nicht rein dokumentarisch gezeigt: Kayla, eine Social-Media-Influencerin, wird von einem Mann gespielt, Figuren tragen offene Platzwunden, Masken mit Nägeln à la «Hellraiser» oder sind – wie Voldemort – auf unheimliche Art und Weise gesichtslos. Weshalb war es euch wichtig, mit der Realität zu brechen?

DD: Es geht uns um die Fratzenhaftigkeit der Figuren, die eine Schaulust auslösen und die auch das Engagement des Publikums mit der Figur erhöhen. In den Masken stecken auch popkulturelle Referenzen aus Hollywoodfilmen, etwa wenn plötzlich der Joker im Business-Anzug vor einem steht.

 

«Für mich war klar, dass Theater grundsätzlich politisch sein muss, um eine Dringlichkeit zu erhalten.» – Damiàn Dlaboha

 

CF: Ein wichtiger Aspekt besteht für mich auch darin, dass sich die Performance so von einem journalistischen Porträt unterscheidet. Die Maske markiert, dass auch der Monolog fiktive Elemente aufweist.

Gab es eine Figur, mit der alles begann?

CF: Die allererste Figur war Mike Cernovich. Über ihn hatte ich eine Reportage im «New Yorker» gelesen. Cernovich ist ein rechter Troll, der Wahlkampf gemacht hat für Donald Trump und in der Alt-Right-Szene der USA eine zentrale Rolle spielte. Die Reportage hatte etwas Szenisches an sich. Das brachte mich auf die Idee, diese Figur auf die Bühne zu bringen. Daraus entstand dann wiederum die Idee, weitere Figuren zu zeigen. So ist eine Sammlung entstanden, die wir zusammen mit dem Dramaturgen Béla Rothenbühler diskutiert haben.

DD: Christoph hat sehr viele Figuren entdeckt, die im Vergleich zur Macht, die sie tatsächlich haben, noch nicht so viel Aufmerksamkeit erhalten haben. Es galt also abzuschätzen, welche dieser Figuren noch ein paar Jahre im Schatten der Öffentlichkeit bleiben würden, denn das waren jene, die für uns besonders interessant waren.

CF: Eine wichtige Figur von Anfang an war auch Wladislaw Surkow, ein politischer Stratege hinter Putin …

… den du selbst gespielt hast.

CF: Wir wollten eben nicht Putin oder Trump zeigen, das wäre zu offensichtlich gewesen. Surkow war interessant, weil er direkt auf Putin eingewirkt hat, aber gleichzeitig für eine Strategie stand, in der es darum ging, die politische Realität schlichtweg auszulöschen. Surkow hatte im Vorfeld der russischen Parlamentswahlen ja tatsächlich eine Fake-Oppositionspartei gegen Putin gegründet, die linksnationalistische Rodina, eine Abspaltung der Kommunistischen Partei. Man wusste also nicht mehr: Ist das jetzt eine Opposition oder gehört die auch zu Putin? Auf eine perfide Art und Weise war das ja auch genial.

Surkow fand ich interessant, weil es sich bei ihm um eine Figur handelt, die wie ein unsichtbarer Marionettenspieler im Dunkeln zu agieren scheint. Die «Menschenschau» sollte also diese häufig unsichtbaren Mächte ans Licht zerren. Ist das heute noch so?

CF: Wenn ich mir heute die älteren Figuren anschaue, waren die näher an den realen Vorbildern. Die neueren Figuren versuche ich exemplarischer zu gestalten, mehr zu zeigen als das, was sie normal tun oder sind, und über sie hinauszuweisen; sie also «bigger than life» zu zeichnen.

 

«Es geht uns darum, die Banalität des Unheimlichen zu zeigen. Denn unheimlich sind uns diese Figuren aufgrund der schieren Tatsache, dass Menschen wie sie tatsächlich existieren und einen Einfluss auf unser Leben haben.» – Christoph Fellmann

 

DD: Ich glaube, in unserem Repertoire gibt es zwei Arten von Figuren: solche, die man in den Medien mit ihrem Klarnamen als CEO einer bestimmten Firma identifizieren könnte, und dann jene, die für eine ganze Personengruppe stehen. Eine solche Figur ist beispielsweise Salita, die das Internet für grosse Tech-Unternehmen durchforstet und Videos löscht, die wir nicht sehen sollen. Salitas gibt es viele, tausende. Gewisse Personengruppen erhalten somit auf einmal einen Namen und andere werden endlich als das benannt, was sie sind.

«Die grosse Menschenschau» ist ein dezidiert politisches Theater: Die Figuren reichen von politischen Demagog:innen, machiavellistischen Kapitalist:innen bis zu Profiteur:innen der Klimakrise. Was war euch bei der Inszenierung dieser politischen Themen wichtig?

Für mich war klar, dass Theater grundsätzlich politisch sein muss, um eine Dringlichkeit zu erhalten. Je nachdem, wie sich das Publikum bewegt, ist man mitunter auch mal allein mit einer Figur in einem Raum. Man hört also eine Geschichte quasi aus erster Hand, die man sonst hätte lesen, recherchieren müssen. Wir versuchen diese Geschichten plastisch, nah und natürlich wahnsinnig verdichtet zu erzählen.

Wie sieht ein solcher Verdichtungsprozess konkret aus? Ihr bedient euch dokumentarischen Materials, aber wie entsteht ein zwölfminütiger Monolog?

CF: Am Anfang steht die Recherche. Ich war lange Zeit als Journalist tätig und glaube, die «Menschenschau» gäbe es nicht ohne diesen journalistischen Hintergrund. Das interessiert mich allgemein am Theater: Ich möchte nicht eine Geschichte über mich selbst erzählen, sondern über die Welt und ihre politischen Realitäten.

Die Recherche beginnt also im Internet, in Büchern und Dokumentarfilmen. Sobald ich das Material zusammenhabe, fängt eine zweite Phase an, die assoziativer ist. In der neuen Staffel gibt es zum Beispiel eine Figur namens Mariana, eine sogenannte Storm-Chaserin. Das ist eine Berufsgruppe, die es zurzeit in den USA tatsächlich vermehrt gibt, die für mittlerweile ziemlich grosse Unternehmen durch das Land reist und nach Hurricanes, Tornados oder Überschwemmungen aufräumt. Statt die Person als Opfer eines kapitalistischen Systems darzustellen, überlegte ich mir, sie mit dem alten Freiheitsversprechen des Reisens zu kombinieren. Nun ist Mariana eine Figur, die ihren Beruf liebt, weil sie so die USA kennenlernt, die sich freut, dass ein neuer Markt für sie entstanden ist. Das ist dann die fiktive Ebene des Monologs, die so in den Quellen nirgends belegt ist.

Wenn ich mir die Figuren anschaue, fällt mir auf, dass die erste Staffel eher Themen der politischen Verführung aufweist, für die auch Surkow ein Beispiel ist, während in der neuen Staffel virtuelle Figuren wie Kayla oder Nayeon, also computergenerierte Influencer:innen und Medienerscheinungen, in unser Leben hineinragen. Sind die neuen Figuren also weniger politisch, sondern eher gesellschaftlich relevant?

CF: Als wir uns an die Erweiterung der «Menschenschau» machten, war die Digitalisierung tatsächlich ein Feld, das hervortrat. Aber es hing auch immer davon ab, welche Figuren wir fanden. Die Geschichte von Nayeon, diesem Mädchen, das gestorben war und in einer koreanischen Fernsehshow digital wieder auferstand, damit die Mutter mittels Virtual Reality noch einmal Abschied nehmen konnte, stach da einfach heraus.

Nun kommt «Die grosse Menschenschau» ins Neubad als gross angelegtes Festival. Das Ganze startet an Halloween, einem Datum, das nicht zufällig gewählt ist. Welche Rolle spielt das Bizarre, das Unheimliche?

CF: Es geht uns darum, die Banalität des Unheimlichen zu zeigen. Denn unheimlich sind uns diese Figuren aufgrund der schieren Tatsache, dass Menschen wie sie tatsächlich existieren und einen Einfluss auf unser Leben haben.

 

Die grosse Menschenschau – Das Festival
DI 31. Oktober bis FR 3. November
mit Filmen, Performances, Vorträgen und einer Wrestling-Show
Neubad, Luzern


 

041 – Das Kulturmagazin
Oktober 10/2023

Interview: Salomé Meier

Salomé Meier ist freie Literatur- und Theaterkritikerin und promoviert derzeit zum Thema «Virtualität und Weiblichkeit» an der Universität Zürich.

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