Alle(s) so egal

Südpol, Kriens, 15.10.2019: Die scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung werden gerne zu den Errungenschaften der westlichen Gesellschaft gezählt. Das Stück «Oh! You Pretty Things» des Kollektivs hirshin&gaul hinterfragt diese Einschätzung auf überzeugende, aber anstrengende Art.

Bilder: Christian Felber

Online sind die sechs Performer*innen von hirshin&gaul als Ziggy Stardust zu sehen – eins von David Bowies Alter Egos. Auch der Titel des Stücks spielt auf Bowie an: «Oh! You Pretty Things» ist ein Song vom Album «Hunky Dory» (1971). Das Kollektiv verspricht einen «groovigen Abend». Es riecht muffig, nach 70er-Nostalgie. Doch weit gefehlt. «Oh! You Pretty Things» ist eine reflektierte Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Das Stück zeichnet ein unangenehmes Bild unserer Zeit. Sosehr, sodass man sich vor Ablauf der 75 Minuten ein Stückchen Nostalgie plötzlich sehnlichst herbeiwünscht.

Hirshin&Gaul im Südpol

Zunächst wird schnell klar: Bowie steht hier nicht für ein Jahrzehnt der tollen Musik. Stattdessen wird er als personifizierte Wandelbarkeit des Ichs geehrt. Als einer der ersten Mainstream-Künstler*innen machte er die Performance seines Selbst sichtbar und bewusst. Er sprengte den Rahmen von Gender-Vorstellungen und spielte mit Vorstellungen von Authentizität und Fiktion. Was der grosse Star sich in den 70ern erlauben konnte, sei heute auch den Normalsterblichen möglich. Den Möglichkeiten der Selbstverwirklichung seien keine Grenzen gesetzt, steht in hirshin&gauls Stückbeschreibung.

Mittels absurder Selbstüberzeichnung testen die Figuren des Kollektivs diese Behauptung. Sie sitzen oder stehen in ihren sechs eigenen Kuben, rings um die in der Mitte der grossen Halle stehende Bühne. Das Publikum kann zwischen den Boxen hin- und hergehen. Alle erzählen von sich. Nur von sich. Larry Glitter (Larissa Lang) spricht über ihr Projekt eines Waldes, der «mit der Börse in New York verschalten» sei. Conny Glitter (Kornelia Cichon) äussert die persönliche Überzeugung, der Mensch brauche «neue Gliedmassen». Christelle Glitter (Christoph Fellmann) möchte der letzte Mensch auf Erden sein und das «ultimative Selfie» schiessen. Die Figuren reden und reden. Meist zwei gleichzeitig. Das Publikum kann auswählen, wem es zuhören möchte. Bei einigen Figuren muss man ganz nah ran, um etwas mitzubekommen, andere sind präsenter und auch aus der Distanz zu verstehen.

Das macht das Stück noch etwas anstrengender, als es dank der Reizüberflutung schon ist: Konstant wird man von verschiedenen Seiten mit fiktionalen Lebensgeschichten berieselt. Man wünscht sich etwas, das die Geschichten der Figuren schlüssig zusammenhält. Doch das gibt es nicht. Da sind nur die isolierten Individuen, kein grösseres Ganzes. Mit ihren Geschichten verhält es sich wie mit den Geräuschen im Weltraum, die Jean Glitter (Hans-Peter Pfammatter) mit seinen Gerätschaften abhört: «Alle Sachen sind gleich wichtig». Hierarchien fehlen genauso wie geteilte Wahrheiten. Alles, was die Figuren zu sagen haben, wird dadurch gleichgemacht – und somit egal. So werden die Schattenseiten des Individualismus der westlichen Gesellschaft entblösst: die Unsicherheit, Isolation, die Abwesenheit von etwas Sinnstiftendem.

Hirshin&Gaul im Südpol

Gegen Ende des Stücks liefern die Figuren endlich etwas, was das Individuum übersteigt. Ein bisschen Nostalgie, welche die Menschen verbindet. Man ist froh, zu bekommen, was man zu Beginn des Stücks sicher nicht gewollt hatte. Es ist hirshin & gauls bester Trick.

In diesem Moment hätte das Stück einen passenden Schluss finden können. Doch es folgt noch der tänzerische Auftritt von Izzy Glitter (I-Fen Lin) und ein Video von Nikki Glitter (Nicole Lechmann). Nochmals wird mit der Beziehung zwischen Performer*innen und ihren Rollen gespielt. Es sind zwei, drei Brüche zu viel. Das Stück flacht ab und endet schliesslich gefühlt zehn Minuten zu spät.

Oh! You Pretty Things
DO 17., FR 18. & SA 19. Oktober, 20 Uhr
Südpol, Kriens

Performance: Kornelia Cichon, Christoph Fellmann, Larissa Lang, Nicole Lechmann, I-Fen Lin, Hans-Peter Pfammatter

Dramaturgie & Endregie: Sarah Buser; Texte & Textbearbeitung: Christoph Fellmann; Bühnenbild: Larissa Lang; Tanz & Choreografie: I-Fen Lin; Musik: Hans-Peter Pfammatter; Foto & Video: Christian Felber; Kamera: Carlos Isabel García; Kostümberatung: Birgit Künzler; Maske: Sabine Flückiger; Licht & Ton: Pavel Mischler; Produktionsleitung Annette von Goumoëns

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