All in: Im Rausch gefangen

Kleintheater Luzern, 03.03.2020: Schauspieler und Regisseur Manuel Kühne widmet sich in seinem neuen Stück dem Pokerspiel. Die Inszenierung überfordert, spekuliert, entlarvt – und riskiert alles.

Bilder: Ingo Höhn

Die Sitzreihen sind um die neue, provisorische Plattform herum angeordnet. Denn hier, mitten im Zuschauer*innenraum des Kleintheaters Luzern, wird Theater gespielt. Dies, weil die Bühne besetzt ist von einem Spieltisch, an dem mit echten Karten und echten Einsätzen um echtes Geld gepokert wird. Das ist das Setting von «All in – Ein Pokerstück», dem neusten Experiment von Regisseur und Schauspieler Manuel Kühne.

Die totale Reizüberflutung

Zunächst fällt auf: Das Pokerspiel scheint Männersache zu sein. Wir sehen die Teilnehmer und den Dealer, hören den Kommentator und verdanken den Livestream dem Videoregisseur. Das einzig Weibliche am Tisch sind die Pseudonyme der Spieler. Das Stück lässt dies unkommentiert.

All In

«ALL IN» dreht sich um Spielsucht, um den Rausch des Gewinnens und des Verlierens, um die Freude am Risiko und um Kalkül. Die Inszenierung ist extrem aufwändig, das Stück will sehr viel gleichzeitig. Das Pokerspiel im Hintergrund wird an eine Leinwand projiziert und via Funkkopfhörer live kommentiert. Auf weiteren Kanälen kann man den Echtzeitgesprächen am Pokertisch lauschen oder einfach Musik hören. Dies, während drei Schauspieler*innen ihre Monologe halten. Paralleles multimediales Entertainment, das unsere kurzen Aufmerksamkeitsspannen bedient.

Es werden drei Geschichten von Spielsüchtigen erzählt. Drei unabhängigen Erzählstränge, denen man – mit Unterbrüchen – folgen soll. Die Geschichten wechseln sich ab, werden jedoch zusätzlich «aufgelockert» durch interaktive Spiele mit dem Publikum. Um teilzunehmen erwirbt man an der Kasse fünf Chips im Wert von je einem Franken. So wird das Publikum zu Spieler*innen, die sich dem Adrenalinrausch nicht mehr ganz entziehen können.

ALL IN

Und schliesslich klingt ab und an ein Nebelhorn durch den Theatersaal. Das bedeutet: Am Pokertisch steigt gerade die Spannung. Also alle Augen auf das Spiel, die Inszenierung wird mitten im Satz unterbrochen, bis die Hand ausgespielt, ein Teilnehmer rausgeflogen oder sich mirakulös gerettet hat. Erst dann wird das Theaterstück fortgesetzt. Alles wird dem Spiel untergeordnet.

Kühne selbst tritt als Moderator Slash Casinoleiter auf und führt durch den Abend. Er sorgt für gute Laune, wirkt als schillernde Fassade, welche die grassierende Spielsucht verdeckt.

Das Stück riskiert einiges – und das passt ins Programm. Gleich zu Beginn lädt Kühne die Zuschauer*innen ein, am Pokertisch einzusteigen. Den Buy In übernimmt der Regisseur, man darf also gratis mittun im No Limit Texas Hold’em, dem «einzig wahren Pokerspiel, weil eben no limit». Die Einladung missglückt, es bequemt sich niemand zu den Spielern am Tisch – ein kalkuliertes Risiko der Inszenierung.

Verstrickung in der Möglichkeit

Kühne, selber Pokerspieler, verhandelt aber weit mehr als die blosse Freude am Risiko. Er lässt seine Figuren sinnieren über Wahrscheinlichkeiten, über Spekulation, über Gewinn und Verlust – und lässt sie langsam in die Tiefen einer Spielsucht gleiten, aus der sie sich kaum mehr befreien können. Das Futur wird zur Obsession: Was passiert, wenn? Und wenn dies, was wird dann wiederum? Die Monologe verstricken sich in Konjunktiven und Details, in Möglichkeiten.

All In – Das Pokerstück

So wie sich das Bühnenbild verstrickt: Die Spielenden ziehen immer mehr Seile und verknoten sie zu einem Netzwerk, wie Synapsen im Hirn, die sich verbinden. Sie lernen, weiter vorauszudenken, zu spekulieren, zu antizipieren. Gleichzeitig sind diese Hirnwindungen sinnbildlich für die Sucht. Langsam beginnen die Schauspieler*innen, sich in den Seilen zu verfangen, zu stolpern, zu fallen. Das Netzwerk wird schleichend zum Netz.

Das Stück im Hinterkopf

Das alles ist intelligent, alles ist kurzweilig, trotz der Ablenkungen. Auch wenn das Set Up nicht immer funktioniert. Teilweise wird das Gespräch am Pokertisch so hitzig, dass die Monologe von den aufwogenden Hintergrundgeräuschen übermannt (männliche Formulierung intendiert) zu werden drohen. Einmal wird ein Spielzug derart enthusiastisch diskutiert, dass Kühne kurz einschreiten muss, um die Gemüter zu beruhigen. Die Inszenierung scheint immer bedroht, das Spiel ist immer präsent – das ist inszenierte Spielsucht. Teilweise erkennt man Zuschauende, die selbst während den Monologen dem Spielkommentar lauschen. Man kann sich diesem Spiel nicht entziehen, unsere Aufmerksamkeit gleitet weg, weil ein Bildschirm läuft – wie man sich den Blick auf das Smartphone mitten in der Unterhaltung nicht mehr verkneifen kann. Eine Sucht nach Unterhaltung.

All in

Und plötzlich liegt das ganze Stück in der Hand der Zuschauenden: Eine Figur (Florian Steiner) will sich wegen seiner Spielsucht in Therapie begeben. Der Termin ist jetzt – was aber bedeutet, dass die Vorstellung abgebrochen wird. Kein Finale, die Geschichte bleibt unvollendet. Manuel Kühne stellt die Gäste vor ein Ultimatum: Entweder Therapie mit Aussicht auf Gesundung, dafür verzichten alle auf das Ende des Stücks. Oder aber der Süchtige bleibt, muss weitermachen, darf nicht aufhören, dafür bleibt das Entertainment.

ALL IN

Und wieder riskiert sich das Stück selbst. All in. Das ist clever – und natürlich wollen die Gäste das Ende sehen, kalkuliertes Risiko eben; vielleicht auch ein wirksamer Bluff Kühnes, auf den wir hereinfallen. Der Süchtige bleibt gefälligst, ist ja alles nur gespielt, und man hat ja bezahlt, auch fürs Ende. Wir wollen unterhalten werden, ohne Rücksicht auf den Preis, den jemand anderes dafür zahlt.

Schliesslich endet das Stück zur Befriedigung der Gäste. In der Tasche bleiben die Spielchips, die man behalten oder dazugewinnen konnte. Damit könnte man das Bier nach der Vorstellung (an-)zahlen – oder man wirft die Chips in das grosse Glas vor der Ausgangstür und spendet das Geld so an die Produktion. Man kann ja problemlos verzichten.

All in – Das Pokerstück
MI 4., DO 5., FR 6. & SA 7. März, 20 Uhr
Kleintheater Luzern

Spiel: Suramira Vos, Florian Steiner, Christoph Künzler

Regie: Manuel Kühne; Text: Christoph Fellmann; Kostüm: Janina Ammon; Bühne/Licht: Flavio von Burg; Video Live Regie: Maximilian Goitseone Preisig; Produktion: Annette von Goumoëns; Kommentator: Marquito Müller

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