Achtsamkeit und Avantgarde

Die Veröffentlichungen seines Labels Hallow Ground peilen andere mentale Zustände an. Und als Yogalehrer weiss Remo Soland, wie man zur Ruhe findet. Eine Lehrstunde in Achtsamkeit – ohne esoterische Klischees.

Rauscht hier alles vorbei? Oder lasse ich mich auf etwas ein, das mich auf mich selber zurückwirft, auf meine mentale Verfassung, auf meinen Körper? Und finde ich gar so etwas wie Ruhe inmitten des beschleunigten Alltags? Besser ausprobieren, alles andere abschalten. Aber nicht in der Yogastunde, sondern mit der Platte «Observation of Breath». Auflegen, die Lautstärke angemessen aufdrehen. Und hören, wie der australische Experimentalmusiker Lawrence English seinen Klängen aus einer Kirchenorgel viel Zeit lässt, wie sie sich entfalten, im Raum ausbreiten, wie sie sich verschieben, wie sie die Umgebung und mich allmählich einnehmen – und wie der urtümliche, enorm physische Sound in mich einfährt.

«Einfahren»: Es ist ein Wort, das Remo Soland an einem garstigen Dezembertag des nun abgeschlossenen Jahres auch braucht, wenn er über die Musik spricht, die er auf seinem Label Hallow Ground veröffentlicht. Besser: Es ist genau das, was er mit Alben wie «Observation of Breath», das im Frühherbst 2021 auf dem Luzerner Label erschienen ist, erreichen will. Und es ist diese Qualität, die ihn an der Musik interessiert und die notwendig ist, damit er eine Veröffentlichung überhaupt in Betracht zieht: «Sie soll einen in den Bann ziehen und im besten Fall den mentalen Zustand verändern.» Wenn sie nichts bewirkt, wenn sie bloss Selbstzweck bleibt, nicht über sich hinausweist? «Musik als Unterhaltung kann schon nett sein. Aber davon gibts schon genug», sagt Soland, der sich als Musiker und im Labelkontext zart verschoben Remo Seeland nennt.

Remo Soland in seinem Zuhause in Zürich

 

Von Soland zu Seeland
Die Unterscheidung ist wichtig, denn der 50-Jährige betreibt nicht nur Hallow Ground, er führt auch ein Yogastudio in der Luzerner Altstadt, in dem wir nun sitzen. Alles ist leer hier, kein Schrein, keine Bilder, keine esoterischen Klischees weit und breit. «Ich halte hier alles absichtlich neutral und Zen-like», sagt Soland, der sehr viel Konzentration, aber keine Strenge ausstrahlt. Denn ablenken soll hier nichts. Auch keine Musik während seiner Yogasequenzen.

 

«Mich interessiert die Fokussierung des Geistes auf einen Gegenstand hin, sei das jetzt auf die Musik oder sei es im Yoga dein eigener Körper oder dein Atem», erzählt Soland.

 

Es geht ihm in beiden seiner Gebiete um Ähnliches: «Mich interessiert die Fokussierung des Geistes auf einen Gegenstand hin, sei das jetzt auf die Musik oder sei es im Yoga dein eigener Körper oder dein Atem», erzählt Soland. «Und dann interessiert mich natürlich immer das Resultat. Eine Yogasequenz ist für mich dann gelungen, wenn ich mich danach ruhiger und klarer fühle. Und eine Veröffentlichung oder ein Konzert war dann erfüllend, wenn es mich völlig einnahm.»

Heute erscheinen die Parallelen zwischen den Hallow-Ground-Veröffentlichungen, die nichts mit herkömmlicher Meditationsmusik gemein haben, und dem Yoga offensichtlich. Doch die Schnittstellen zwischen den beiden Polen, von denen es so viele gibt, waren Remo Soland zunächst nicht bewusst. Er hielt sie lange Zeit gar separat, «deshalb die beiden Namen Soland und Seeland». Seit den Neunzigern praktiziert er Yoga, seit Anfang der Nullerjahre betreibt er das Yogastudio; das Label Hallow Ground entstand 2013 aus der gleichnamigen Konzertserie und zieht heute international innerhalb der experimentellen Ambient-Nische weitere Kreise.

Aber klar: Mit Musik wurde er noch früher sozialisiert, Ende der Achtziger. Remo Soland bewegte sich in der Luzerner Do-it-yourself-Szene, der er sich noch heute verpflichtet fühlt; er war im Sedel, in der Boa, im Treibhaus oder im Werkhof unterwegs, hatte dort Übungsräume, organisierte Veranstaltungen und gab mit eigenen Bands Konzerte.

Musikalische Experimente mit meditativen Geisteszuständen
In all den Jahren verbanden sich die Musik und das Yoga immer mehr. Heute nehmen beide Bereiche je 50 Prozent seines Arbeitspensums in Anspruch. «Oder eher 60 zu 60, aber das ist halb so wild, weil alles, was ich tue, mir Freude bereitet.» Nun, vielleicht weniger die administrativen Arbeiten, aber das Planerische: Das sei sehr wohl eine kreative Arbeit.

So kam immer mehr zusammen, was kulturhistorisch seit jeher zusammengehört: Remo Soland, der nach einer kunsthandwerklichen Berufslehre auf dem zweiten Bildungsweg Kultur- und Religionswissenschaften studiert hat, erinnert an die rituellen Ursprünge der Musik, an die spirituellen Traditionen, an die Gamelan-Musik auf Bali. Er schweift ab nach Indien, wo er für seine Studien länger weilte, erwähnt Nada-Yoga, den Yoga des Klanges, der durch Klänge hin zur Ruhe führt.

Remo Soland in seinem Zuhause in Zürich

 

Es überrascht Soland denn auch nicht, dass viele der Musiker:innen, die er auf Hallow Ground veröffentlicht, Yoga- oder andere Meditationserfahrungen gemacht haben. «Wer solche Musik macht, experimentiert mit meditativen Geisteszuständen.» Und früher oder später – mit Lawrence English oder mit der Post-Industrial-Legende David Tibet, für den Soland das erste Hallow-Ground-Konzert in der Matthäuskirche organisiert hat – unterhalten sie sich über Yoga.

Colin Potter, Kali Malone und Martina Lussi
Wir scrollen uns auf dem Laptop, den Soland im Atelier nun aufgeklappt hat, auf der Bandcamp-Seite seines Labels durch den Hallow-Ground-Katalog: Es beginnt unten, bei einem Album von Colin Potter, Mitglied der prägenden Post-Industrial-Band Nurse with Wound und Held von Soland. Wie kam es zu dieser Veröffentlichung? «Ich habe ihm aus der Laune heraus einfach eine Mail geschrieben, und dann kam wirklich eine Antwort. Und ich dachte mir: Zum Glück bin ich so dreist gewesen, ihn einfach anzufragen.» Das sei ein erster Meilenstein gewesen – «einfach um zu merken, was alles möglich ist, wenn du mit Leuten in Kontakt trittst.» Potters Album öffnete Tore, es folgten Veröffentlichungen mit dem New Yorker Urgestein Norman Westberg, der vor dem Album für Hallow Ground seine minimalen Gitarrensounds nur auf selbstgebrannten CDs in Kleinauflagen unter die Leute brachte, oder Kali Malone, die durch ihr Debüt auf Hallow Ground internationale Bekanntheit erlangte.

Wir gehen weiter in Richtung Gegenwart, es blitzen lokale Namen auf – Martina Lussi, Roland Bucher oder Laurin Huber, der seit kurzem bei den Labelarbeiten mithilft. Die Begeisterung, die Freude auch über diesen Katalog erfüllt das Studio – selbst wenn die haptische Tonträger-Dimension und damit auch das visuelle Cover-Erlebnis, beides zentrale Teile der Hallow-Ground-
Produktionen, vor dem Laptop fehlen.

Oasen schaffen
Wir legen auch einen Stopp ein bei «Hollow Body», Remo Seelands eigenem Album. Für die Aufnahmen ist er nach New York übergesiedelt und hat sich gänzlich aus dem Alltag herauskatapultiert. «Den kreativen Prozess nehme ich sehr ernst. Denn ich weiss, dass es viel Zeit und Raum und allgemein viele Ressourcen beansprucht, wenn man einen gewissen Tiefgang erreichen will.» Er will mit diesen absichtlich eingebauten Inseln seinen eigenen Ansprüchen gerecht werden. Und wenn es mal nicht klappt? «Entweder zieht es mir den Ärmel rein oder dann halt nicht.» Den kreativen Prozess könne man nun mal nicht forcieren – aber vielleicht hat man ja in dieser Zeit ein technisches Problem gelöst oder weiter am Setting gefeilt.

 

«Den kreativen Prozess nehme ich sehr ernst. Denn ich weiss, dass es viel Zeit und Raum und allgemein viele Ressourcen beansprucht, wenn man einen gewissen Tiefgang erreichen will.»

 

Ende März erscheint die erste Label-Compilation «Epiphanies». Die 16 Stücke der verschiedenen Hallow-Ground-Künstler:innen beschreiben künstlerische und nicht unbedingt spirituelle Eingebungen. Denn mit grossen Worten wie Spiritualität jongliert Soland nicht. Doch natürlich: Lektionen in Achtsamkeit können diese Musiken sein. «Eine klassische Definitionsmöglichkeit von Achtsamkeit ist ja, dass das Handeln und das Denken zusammenkommen. Anders gesagt: Du hast vollen Anteil an dem, was du tust», erklärt Soland. Wem das gelingt, der erlebt auch viel mehr in dem, was er macht, weil nichts einfach so nebenbei passiert. «Das ist das, was ich in der Musik, im Alltag und im Yoga suche. Und das würde uns schon guttun, wenn wir mehr Bewusstheit reinbringen könnten in den Alltag.

Remo Soland in seinem Zuhause in Zürich

 

Aber wo findet denn einer wie er, der Yogastunden gibt und Musik veröffentlicht, die genau gehört werden muss, Zerstreuung? «Oft hängt ja an Yogalehrern das Klischee, quasi 24 Stunden am Tag achtsam zu sein. So ein Leben stelle ich mir ziemlich langweilig vor», sagt Remo Soland, der Zerstreuung immer findet: im Black Metal, den er noch immer liebt und der weniger in den Kopf als in das Rückenmark einfährt, in trashigen Theaterstücken, in entsprechenden Filmen. Dort gehört dann auch das Bier einfach dazu – «das brauchts, sonst wird das Leben einfach zu ernst.» 


Update
25.02.2022 – null41 Verlag

Heute erscheint «EPIPHANIES», die im Beitrag besprochene Compilation. Remo Soland hält das Release im Header dieses Beitrags und auf Seite 21 von 041 – Das Kulturmagazin in den Händen.

Die 2×LP ist über Hallow Ground Bandcamp erhältlich.


Text: Benedikt Sartorius
Bild: Hannah Grüninger

041 – Das Kulturmagazin im Februar 02/2022.

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