01.03.24
Film
Wer Unruhe provoziert
In seinem filmischen Schaffen stellte Karl Saurer (1943–2020) die herrschenden Verhältnisse infrage. Der Einsiedler sah Widerstand nicht als Blockade, sondern als Aufbruch und Wagnis.
Jakob Tanner (Text), Boney Keyar (Bild) und Karl Saurer (Filmstill)
1971 hatte das Schweizer Fernsehen für das neu geschaffene Jugend-Format «Kehrseite » eine Reihe von Filmen bestellt. Drei Autoren, unter ihnen Karl Saurer, produzierten eine Doku mit dem ironischen Titel «Ruhe und Ordnung». Diese griff die heissen Themen auf, welche die 68er-Bewegung auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Ebenso unterhaltend wie belehrend wurde der schweizerischen Gesellschaft ein Spiegel vorgehalten. Kein Wunder, dass die SRG-Verantwortlichen kalte Füsse bekamen und die 50-minütige Überdosis an Kritik noch vor der Ausstrahlung in den Giftschrank steckten. Massgeblich für diese Zensur war der sich formierende Druck von rechts auf die öffentlich-rechtliche Medienanstalt. Bürgerliche Gruppierungen verfolgten das Ziel, dem Fernsehpublikum «nur Rechtes» aufzutischen. In diesem Fall hatte das funktioniert.
Massgeblich für die Zensur der Doku «Ruhe und Ordnung» war der sich formierende Druck von rechts auf die öffentlich-rechtliche Medienanstalt.
«Brav» werden
Im vergangenen November wurde der Film erstmals öffentlich gezeigt. Der Hinweis im Abspann «Eine Sendung des Schweizer Fernsehens» bringt das filmische Nicht-Ereignis sarkastisch auf den Punkt. Wer sich «Ruhe» (so der gekürzte Titel) heute ansieht, dem:der fällt auf, wie stark der Film durch die legendären 68er-Jahre geprägt war. Zugleich wird die Absicht, sich in die politischen Auseinandersetzungen einzumischen, erkennbar. In den ersten Szenen schlägt die Dokumentation einen grossen Bogen von China (Kulturrevolution) in die Schweiz (Globus-Krawalle). Damit unterstützte sie das damals in der Protestgeneration populäre Bild eines allgemeinen und globalen Aufbruchs gegen die autoritären, profitfixierten, kolonialistischen, zu Gewalt und Krieg neigenden Gesellschaften der Gegenwart. Über alle Lebensalter und Sozialisierungsstufen hinweg – von Kleinkinderkrippen und Primarschule über Jugend- sowie Sportorganisationen bis hin zur Armee – werden heranwachsende Menschen mit einer Mixtur von Indoktrination und Zwang dazu angehalten, «brav» zu werden, sich fügen zu lernen und sich in die herrschenden Verhältnisse einzupassen. Der Film will, wie Karl Saurer später festhält, ein Bewusstsein dafür schaffen, dass «vom Kindergarten bis hin zur Rekrutenschule eine fast lückenlose Kette von Sozialisierungsagenturen» am Werk ist. Diesem Aufklärungsziel dient auch der Off-Kommentar, der die bewegten Bilder in Zusammenhang bringt, sie einander gegenüberstellt und auf andere, bessere Lösungen verweist.
Am Beispiel eines Anfang der 1970er-Jahre repressiv abgebrochenen «matrixbezogenen Projektstudiums» am Departement für Architektur der ETH Zürich zeigt der Film auf, wie eine demokratisch gewendete Wissenschaft den Umgang mit knappem Boden und das Experimentieren mit neuen Wohnund Lebensformen befördern könnte. «Wir können uns den Kapitalismus bald nicht mehr leisten», lautet das Fazit einer Studierenden, die sich am Beispiel der Volketswiler Göhner-Siedlungen zu komplexen Fragen des Grundstückmarktes, der Immobilienspekulation und der Regionalplanung äussert. In der Hausbesetzerszene kämpft man für bezahlbare Mieten. In einer Winterthurer Lehrlingsgewerkschaft wird über die Einführung von Berufsfachschulen (wie sie heute tatsächlich existieren) nachgedacht. Eine Gruppe der Frauenbefreiungsbewegung diskutiert die sozialen Bedingungen für ein weibliches Empowerment in der Wirtschaft und einer gleichberechtigten Gesellschaft. Immer wieder blitzt im visuellen Narrativ die transnationale Dynamik der Post-68er-Bewegungen auf. In diesen Momenten stellt sich die emanzipatorische Illusion eines weltweiten Gleichklangs von Veränderungskräften ein. So auch am Schluss mit einer Demonstration für die US-amerikanische Bürgerrechtlerin Angela Davis, die in einer antiimperialistischen Brandrede einer Aktivistin gipfelte.
Alternativen statt Blockaden
Die filmische Dokumentation oszilliert zwischen schematisierender Vereinfachung und dem dezidierten Willen, die Komplexität der Gesellschaft einsichtig zu machen. Omnipräsent ist das Bedürfnis, Autoritäten herauszufordern und Ungerechtigkeiten anzuprangern. Aufgrund dieser Beobachtung hat seine ehemalige Lebensgefährtin Elena M. Fischli die filmische Praxis Karl Saurers im von ihr herausgegebenen Buch stimmig als «kreativen Widerstand» beschrieben. Dies gilt in einem doppelten Sinne: Zum einen setzte Karl Saurer als Filmer das Medium kreativ ein. Er war kein Ästhet im bildungsbürgerlichen Sinne. Aber er wusste um die Bedeutung der Form. Es schwebte ihm eine «Ästhetik des Widerstands » vor, wie sie der Schriftsteller Peter Weiss in seinem gleichnamigen Werk Mitte der 1970er-Jahre einforderte. Darin wird der Widerstand der Arbeiterbewegung gegen den Nationalsozialismus als Zusammenspiel von künstlerischer Moderne und gesellschaftlicher Befreiung dargestellt. Das war die kritisch-reflektierte Gegenbewegung zur «Ästhetisierung der Politik», die mit nationalen Symbolen und populistischen Reden die Massen mobilisierte. Darin hatte der Philosoph Walter Benjamin schon vier Jahrzehnte zuvor die Signatur des Faschismus erkannt. Konsequenterweise zielte Karl Saurers Widerstand auf Demokratisierung. Seine Filme lösen Wahrnehmungsverschiebungen aus. Mit dem Einsatz formaler Mittel, zum Beispiel mit Kontrastschnitten, thematisiert er neue Handlungsmöglichkeiten und gestaltbare Zukunftsräume.
Karl Saurer verfügte über eine klare Vorstellung davon, wie die nötigen Veränderungen bewerkstelligt werden können. Die «Chiffre 68» stand damals für eine imaginierte «grosse Weigerung» in der Streiktradition der Arbeiterbewegung: «Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will.» Diese Entzugsmacht wurde von ihm neu gedacht. Im Deutschen ist «weigern» etymologisch abgeleitet aus «widerstrebend» und «tollkühn ». Das widerstrebende Handeln versteht sich als Wagnis. Es geht nicht um Blockaden, sondern um Alternativen. Es gibt keine fertigen Rezepte. Vielmehr soll zu Suchbewegungen ermuntert werden, in denen sich Kritik und Kreativität verbinden.
Das Richtige erweist sich erst in der Praxis
Der Soziologe Detlev Claussen unterstellte der 68er-Bewegung ein «metropolitanes Selbstmissverständnis der Revolte als Revolution ». Darunter versteht er den Hang der damaligen Akteur:innen, ihre auf grosse Städte konzentrierten Proteste zu einem radikalen revolutionären Umbruch zu überhöhen. Gegen eine solche Selbstüberschätzung war Karl Saurer gefeit. Er protestierte gegen die Zensur, die gegen «Ruhe» ausgeübt wurde, und verfolgte eine Reihe von Filmprojekten, die auf die Arbeitswelt fokussierten. 1976 kam «Das Brot des Bäckers» ins Kino, für den er mit Erwin Keusch das Drehbuch verfasst hatte. Hautnah erfährt man hier, wie ein kleingewerblicher Betrieb durch Kapitalkonzentration und Grossbetriebe unter Kostendruck gerät. Die Flucht in die mechanisierte Rationalisierung wird für die Beteiligten zum Drama. Als der ehrbare Bäcker, der mit seiner Familie den Betrieb über Jahrzehnte hinweg aufgebaut hat, einsehen muss, dass auch diese Strategie der Produktivitätssteigerung nicht funktioniert, bezeichnet er die Geschäftsleute, die ihn auf diesen Weg gedrängt haben, als «Banditen». Kurze Zeit später lässt er nachts im neuen Supermarkt seiner Zerstörungswut freien Lauf und bereut dies anschliessend nicht. Der Lehrling, der zu ihm hält, kontert den Vorwurf, das sei doch aussichtsloser «Maschinensturm», mit der trockenen Bemerkung: «Ich finde das stark.» Widerstand nimmt in diesem Lehrstück des wirtschaftlichen Strukturwandels die Qualität eines Lernprozesses an: Alle Protagonist: innen anerkennen, dass Veränderungen nötig sind – doch sie werden nicht zu billigen Bannerträger:innen eines rücksichtslosen Fortschritts, sondern üben weiterhin «den schwierigen aufrechten Gang» (so der Titel eines Essays von Karl Saurer über den Polit-Film in der BRD). Sie bewahren ihren widerständigen Charakter und damit ihre Würde als Menschen. Sie finden gemeinsam neue Lösungen nach dem Motto: «Das Richtige erweist sich erst in der Praxis.»
Rückblickend lässt sich sagen, dass der Film «Ruhe», der so viel Unruhe provozierte, als eine Art kreative Hefe wirkte, die im «Brot des Bäckers» aufgegangen ist und dabei zeigt, wie Widerstand eine zukunftsträchtige Form gewinnen kann.
Das Buch «Filme für den kreativen Widerstand. Zum Wirken Karl Saurers (1943–2020)» von Elena M. Fischli ist im November 2023 beim Daimon Verlag erschienen.