
01.01.24
Literatur
Von Schelmen und Schergen
Der Luzerner Autor Erhard Stocker hat seinen zweiten Roman veröffentlicht. «Nachtfalters Tagtraum» spielt mitten im Zweiten Weltkrieg, kreist um Themen wie Flucht, Identität, Täuschung und Verrat.
Ruth Gantert (Interview) und Linus Rieser (Bild)
Erhard Stocker, Sie haben Übersetzung an der Universität Genf studiert und danach fast dreissig Jahre lang in Bern als parlamentarischer Übersetzer gearbeitet. Gibt es für Sie einen Bezug zwischen dem Übersetzen und dem literarischen Schreiben?
Ja, den gibt es. Ich schreibe ja nicht autofiktional, wie es der heutige Trend ist. Meine Bücher spielen in Zeiten, die ich nicht oder höchstens als kleines Kind erlebt habe, und grösstenteils an Orten, an denen ich nie war. Insofern ist für mich Schreiben auch Übersetzen: Ich hole etwas Entferntes an mich heran, mache es für mich und meine Leserschaft gegenwärtig. Sich in andere Leute versetzen, eine andere Perspektive einnehmen – das ist es, was Literatur für mich ausmacht.
Tatsächlich spielt Ihr neuer Roman vor fast achtzig Jahren. Die Hauptfigur, der Österreicher Paul Wegner, flüchtet 1944 nach Zürich und lernt dort eine junge Frau kennen, Lidia Mendel. Sie wurde als Halbjüdin aus der ukrainischen Bukowina in ein Lager verschleppt, bevor ihr die Flucht in die Schweiz gelang. Wie haben Sie für Ihren Roman recherchiert?
An manche Orte bin ich hingefahren – ins Dreiländereck zum Beispiel, ins österreichische Höchst jenseits der Schweizer Grenze bei St. Margrethen, wo das Buch anfängt. Viele Geflüchtete kamen damals über das Bruggerhorn. Ich wollte auch eine Reise in die ukrainische Bukowina buchen, da hat der Reiseführer die Tour wegen der Maidan-Revolution abgesagt.
Ich habe viel gelesen: Edgar Hilsenraths «Nacht», ein 600-seitiges Buch über die Vernichtungslager, die Romane von Aharon Appelfeld und viele andere. Und natürlich habe ich alles Mögliche auf Google und YouTube gesucht: Fahrpläne, Automarken und auch das Foxtrott-Lied, das die 15-jährige Lidia 1941 auf ihrem Plattenspieler hört. Zur Veranschaulichung habe ich in mein Exemplar auf alle Stellen, für die ich recherchiert habe, ein Post-it geklebt, schauen Sie nur!
Im Vorspann des Romans steht: «Die handlungsbestimmenden Personen sind frei erfunden.» Das heisst, einige der Nebenfiguren haben durchaus historische Vorbilder?
Ja, manchmal habe ich mich von realen Personen inspirieren lassen. Pauls Tante Elsa lernt ihren Partner, der Pauls falschen Pass ausstellt, in den Zwanzigerjahren in Zürich bei Wladimir Rosenbaum und Aline Valangin kennen, die allerdings nicht mit Namen genannt werden. Im Gasthaus am Stadelhofen – es hiess Terminus, heute gibt es das nicht mehr – trifft Paul 1944 den Schriftsteller Konrad Beerli, einen «etwa fünfzigjährigen Mann mit Hasenzähnen und fröhlich glänzenden Augen», bei dem ich an Kurt Guggenheim gedacht habe. Der ältere Mann mit Nickelbrille, der ebenfalls in der Gaststube sitzt, könnte C. G. Jung sein, der jüngere Pfeifenraucher Max Frisch. Und die beiden Frauen, die knabenhafte mit der Windstossfrisur und die rundliche mit dem Zopf, sind Erika Mann und Therese Giehse.
Der Anfang Ihres Romans ist fulminant: Der Grenzsoldat Paul Wegner wird wegen Fahnenflucht zum Tod verurteilt. Er entkommt seiner Hinrichtung und springt dem Tod gleich ein zweites Mal von der Schippe, bevor ihm die Flucht in die Schweiz gelingt. Wie sind Sie darauf gekommen?
Ich habe im Gemeindehaus von Höchst nach Dokumenten und Plänen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs gefragt. Stattdessen holte man einen 83-jährigen Mann, der sich «in der Sache auskennt». Er zeigte mir die Gegend und erzählte, wie es damals aussah. In einer Seidenspinnerei, deren jüdischer Besitzer deportiert wurde, hatte die SS ihr Hauptquartier eingerichtet. Plötzlich sprach er von sich selbst. Er sei damals Grenzsoldat gewesen. Eines Tages habe er über den Alten Rhein zur Schweiz hinübergeschaut und zu einem Kameraden gesagt: Ein Urlaub in der Schweiz, das wär’s doch. Der andere Soldat denunzierte ihn. Er kam gleich vors Feldgericht und wäre wegen geplanter Desertion zum Tod verurteilt worden, wenn ein Offizier nicht ein gutes Wort für ihn eingelegt hätte. So hatte ich meinen Anfang.
Als das Buch fertig war, ging ich nochmals nach Höchst. Der Mann lebte noch, fast hundertjährig. Sein Blick war wach, doch er erinnerte sich nicht an mich. Als ich ihm sagte, ich hätte seine Geschichte verwendet, antwortete er, das sei ausgeschlossen, er sei nie im Grenzeinsatz gestanden.
Hatten Sie die ganze Geschichte schon im Kopf, als Sie anfingen, zu schreiben?
Nur sehr vage. Zuerst kannte ich nur den Ausgangspunkt: Jemand kommt mit einem falschen Pass in die Schweiz. Was geschieht danach? Gibt er die fremde Identität wieder auf, haftet sie an ihm? Ich lasse mich während des Schreibens von meinen Figuren überraschen. Es ist, als gingen sie ein Stück mit mir und erzählten mir ihre Geschichte. Ich brauche eine starke Handlung, sonst kann ich nicht schreiben. Zweihundert Seiten über Befindlichkeiten – das geht bei mir nicht. Vieles streiche ich dann wieder, manches muss ich im Nachhinein ändern, damit es zu einer unerwarteten Wendung passt. Einiges ist selbst erlebt, obwohl ich nicht über mich schreibe.
«Als ich ihm sagte, ich hätte seine Geschichte verwendet, antwortete er, das sei ausgeschlossen, er sei nie im Grenzeinsatz gestanden.»
Pauls Flucht in die Schweiz 1944 wird in der Ich-Form erzählt. Im zweiten Teil folgt «Die Erzählung der Marie Linka». Die Hausangestellte der Familie Mendel berichtet Paul von der Kindheit und Jugend von Lidias Halbbruder Wido, von 1914 bis 1941. Schliesslich folgen die vier Hefte des Maxim Reiss, der mit Lidia aus dem Lager geflüchtet ist. Warum wechseln Sie die Erzählperspektiven?
Ich hätte die Geschichte ja auch in der reinen Er-Form erzählen können. Aber ich wollte vermeiden, über alles Bescheid wissen zu müssen. Auch mir ist nicht alles klar. Sind Wido und Lidia mehr als Halbgeschwister? Was ist zwischen ihnen vorgefallen? Die Personen, die jeweils erzählen, wissen nur, was sie sehen und hören konnten.
Trotz der wechselnden Erzählperspektiven scheint mir der Stil immer der gleiche zu sein – war das ein bewusster Entscheid?
Der zweite Teil unterscheidet sich schon vom ersten. Hier wird mehr fabuliert, wogegen die Rahmenhandlung viel direkter ist. Aber es stimmt, es kam mir nicht darauf an, die Sprechweise von Marie Linka wiederzugeben und noch weniger den Schreibstil von Maxim Reiss im vierten Teil. Ich wollte, dass sie zwar diejenigen sind, die erzählen, aber die Geschichte vor den Augen der Leserschaft entsteht wie ein Film, der die erzählende Person überblendet. Deshalb erzähle ich auch viel ausführlicher, als es in der konkreten Situation realistisch wäre.
Problematisch scheint mir, dass der Stil weiterhin an einen Schelmenroman denken lässt, während die Judenverfolgung beschrieben wird. So heisst es bei der Ermordung von Lidias Vater, Ruben Mendel, der in Czernowitz aus einem Hotel zu fliehen versucht: «Als er unten ankam, wurde er mit Hohngelächter empfangen und wie ein Hase abgeknallt.» Sind solche Formulierungen angebracht?
Schelmenroman? Also darauf wäre ich jetzt nie gekommen. Es geht hier doch einzig darum, zu zeigen, wie es die Täter sahen, ihre Ausdrucksweise wiederzugeben. Wenn ich schreibe «wie ein Hase abgeknallt», will ich den Lesenden die Menschenverachtung dieser Schergen vor Augen führen. Sie haben das wirklich gemacht: Menschen in Paternoster gestossen und dann beim Aussteigen erschossen, auch das ist dokumentiert.
Die Geschichte von Wido ist die Geschichte eines Jungen, der später Arzt und nationalsozialistischer Lagerkommandant wird. Der Judenhass dieses Mannes mit den «eisblauen Augen» und dem «rabenschwarzen Haar» gründet auf der Verachtung seines jüdischen Stiefvaters. Greift das nicht etwas zu kurz als Erklärung des Antisemitismus?
Ich sage ja nicht, dass das bei allen so war, ich erzähle einfach den Werdegang eines einzelnen Antisemiten. Es war nicht meine Absicht, eine Erklärung für den Antisemitismus zu liefern, das kann ich nicht. Eine symbolische Bedeutung ist aber schon in der Geschichte angelegt: Die Christen stammen ja von den Juden ab, also ist Antisemitismus wirklich so etwas wie Hass auf den eigenen Erzeuger.
Am Ende gibt es einen Showdown, Schüsse fallen, doch der Ausgang bleibt offen. Wissen Sie, wen die Schüsse treffen?
Vielleicht verfolgen sie einander ja noch immer ... Doch die Schüsse haben hoffentlich den Richtigen erwischt, alles andere wäre ungerecht.
Erhard Stocker wohnt und arbeitet in Luzern. Nach seinem Debüt «Marienseide» (Appenzeller Verlag, 2006) legt er nun seinen zweiten Roman vor.
Das Buch «Nachtfalters Tagtraum» von Erhard Stocker ist im September 2023 beim Verlag Edition 8 erschienen.