
09.07.23
Film
Vom Kino ignoriert
Viele Migrationsgeschichten haben es noch nicht auf die Leinwand geschafft. So auch jene von Rose und ihren Söhnen, die Léonor Serraille nun in ihrem neuen Spielfilm «Un petit frère» erzählt.
Valérie Hug (Text)
In «Un petit frère» erzählt die französische Regisseurin Léonor Serraille über drei Jahrzehnte hinweg die Geschichte der alleinerziehenden Mutter Rose, die mit ihren Söhnen Jean und Ernest Ende der 1980er-Jahre von der Elfenbeinküste in einen Pariser Vorort zieht, fest entschlossen, ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Der Film ist in drei Kapitel gegliedert – Rose, Jean und Ernest –, in denen der Fokus auf der jeweiligen Hauptfigur liegt, während die Geschichte voranschreitet. So lässt Serraille die Zuschauer:innen auf einfühlsame Art am Alltag einer Familie und an den persönlichen Kämpfen der Protagonist:innen teilhaben: Roses Leben ist ein Balanceakt zwischen Arbeit, Liebe und der Zeit für ihre Kinder. Jean als grosser Bruder muss das gute Vorbild, der beste Schüler sein – eine Verantwortung, an der er zu zerbrechen droht. Ernest, der mit vier Jahren nach Frankreich kommt, kann sich kaum an seine Heimat erinnern, fühlt sich auf der Suche nach seinem Platz oft einsam.
Die Regisseurin setzt dabei gekonnt subtile Nuancen ein, um sowohl die Entwicklung der Charaktere als auch ihre Beziehungen untereinander zum Ausdruck zu bringen. Intime und persönliche Umgebungen heben Momente des Zusammenhalts, der Zerbrechlichkeit, der Sensibilität und des Rausches hervor.
MIGRATIONSGESCHICHTEN ERZÄHLEN
Léonor Serraille wurde 1986 in Lyon geboren, wo sie aufwuchs und Literaturwissenschaft studierte, bevor sie an die Filmhochschule La Fémis in Paris wechselte. Die Idee zu ihrem aktuellen Film sei aus einem Mangel und einem Bedürfnis entstanden, erzählt Serraille in einem Interview gegenüber MK2 Films. Aufgrund politischer Unruhen sowie einer schweren wirtschaftlichen Krise verliessen in den 1980er- und 1990er-Jahren viele Ivorer:innen ihre Heimat in der Hoffnung, in Frankreich eine bessere Zukunft zu finden.
Dass es diese Migrationsgeschichten noch nicht ins französische Kino geschafft haben, hat Serraille erstaunt. Daneben sei das Projekt auch mit dem Wunsch verbunden gewesen, ihren eigenen Kindern «einen Teil ihrer Geschichte oder zumindest eine Interpretation dieser Geschichte» zu erzählen. So war es denn auch die Geschichte ihrer Schwiegermutter, die selbst von der Elfenbeinküste stammt, die Serraille zu «Un petit frère» inspirierte.
Das Projekt ist mit dem Wunsch verbunden, den Kindern «einen Teil ihrer Geschichte oder zumindest eine Interpretation dieser Geschichte» zu erzählen.
NIEMANDEM GEHÖREN
Die Regisseurin zählt zu einer neuen Generation französischer Filmemacherinnen um Céline Sciamma, Julia Ducournau und Deniz Gamze Ergüven, die eigenwillige Porträts rebellischer Frauen zeigen. Wie schon im Drama «Jeune femme», das 2017 in Cannes die Caméra d’Or für das beste Filmdebüt gewann, thematisiert Léonor Serraille auch in «Un petit frère» individuelle Freiheit und Selbstbestimmung.
In beiden Filmen streben die Protagonistinnen danach, ihr Leben frei zu gestalten und ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Das verdeutlicht Rose, gespielt von Annabelle Lengronne, gleich zu Beginn des Films: Als ihr ein Mann mit dem sprechenden Namen Jules César sagt, dass sie jemanden brauche – und damit meint dieser Mann sich selbst –, der sich um sie und die Kinder kümmert, erwidert sie, dass er zu viel rede. In einer anderen Szene betont Rose, dass sie sich ihre Männer selbst aussuche, denn sie habe keine Lust auf einen, der sie als Eigentum betrachtet. Sie gehöre niemandem.
STRUKTURELLE UNGERECHTIGKEITEN UND IDENTITÄT
«Un petit frère» greift aktuelle politische und gesellschaftliche Diskurse auf. So treffen strukturelle Ungerechtigkeiten alleinerziehende Mütter – insbesondere, wenn sie wie im Falle von Rose migrantisch und rassifiziert sind – besonders hart. Sie sind häufiger von Armut betroffen und werden oftmals sozial und wirtschaftlich benachteiligt. Léonor Serraille gelingt es, die Komplexität der Mutterschaft in der heutigen Gesellschaft einzufangen, zu reflektieren und den Spagat zwischen den Bedürfnissen einer Mutter und ihrer Erziehungsverantwortung aufzuzeigen, ohne dabei auf stereotype Darstellungen zurückzugreifen.
Ein weiteres zentrales Thema des Films ist Identität. Was bedeutet es, woanders geboren zu sein, Französ:in zu sein, Schwarz zu sein? «Un petit frère» bricht mit gesellschaftlichen Normen und Rollenbildern, die Menschen in Schubladen stecken. Dabei kommt der Film ohne spektakuläre Inszenierungen aus und schafft es, Themen wie Klasse, Geschlecht und Zugehörigkeit zu berühren, ohne belehrend zu wirken.
