07.07.23
Musik
(Un)ruhe stiften
Martina Berther und Philipp Schlotter haben ihr neues Album «Matt» in einer Kirche im Glarnerland aufgenommen. Im September wird es zum ersten Mal live am Jazz Festival Willisau zu hören sein.
Anna Girsberger (Text) und Jeremie Luke (Bild)
Martina und Philipp, wie fühlt es sich an, in einer Kirche ein Album zu produzieren?
Martina Berther: Das war eine inspirierende Erfahrung. Eigentlich wollten wir ja ein Album mit E-Bass und Synthesizer aufnehmen, doch plötzlich war da diese Orgel mit diesem wahnsinnigen Klang. Also entschieden wir uns, das Instrument miteinzubeziehen.
Philipp Schlotter: Die Akustik in der Kirche ist eine wichtige Eigenschaft unseres Projekts, deshalb werden wir auch am Jazz Festival Willisau in einer Kirche spielen. Ganz oben auf der Empore.
Kirchen verbindet man intuitiv mit Religion und Spiritualität. Ist eure Musik spirituell?
MB: Als dieses Album entstanden ist, sehnte ich mich nach mehr Ruhe. Meine anderen Projekte, wie zum Beispiel die Band Ester Poly, sind viel lauter und empörter. Das spiegelte sich auch in meinem Leben wider. Durch das Entschleunigen meiner Musik entsteht eine Sanftheit, welche ich in meinen Alltag tragen kann.
Die Kirche ist ein Ort, an dem man ruhig dasitzt und zuhört, im Gegensatz zu einer Bar oder einem Club. Unsere Musik lädt ein, sich Zeit zu nehmen, einen Moment zu verweilen und einzutauchen. Klingt schon irgendwie ein bisschen spirituell, oder?
Philipp, war es auch deine Motivation, Ruhe zu finden?
PS: Nicht unbedingt. Laut darf es für mich schon noch sein (lacht). Ich verstehe Martina aber gut, der Leistungsdruck in der Musikbranche kann schon ungesund sein, und auch ich muss mich zwischendurch davon distanzieren.
«In unserer Komposition ändert sich in jeder Minute nur ein einziger Ton. Dementsprechend ist das Stück sehr ruhig. Trotzdem – oder genau deswegen – hat es etwas Aufwühlendes.»Martina Berther
Euer erstes gemeinsames Stück habt ihr «Unruhe» getauft. Ganze 48 Minuten dauerte dieses zu Beginn und ist nun in gekürzter Version auf dem Album zu hören. Was hat es damit auf sich?
PS: «Unruhe» basiert auf vier Zwölftonreihen. Das sind Reihen, die alle zwölf chromatischen Töne, also alle schwarzen und weissen Tasten des Klaviers, je einmal enthalten. In unserer Komposition ändert sich in jeder Minute nur ein einziger Ton. Dementsprechend ist das Stück sehr ruhig. Trotzdem – oder genau deswegen – hat es etwas Aufwühlendes.
Diese Art von Musik kann als Drone Music bezeichnet werden. Minimalismus und lang anhaltende Klänge, sogenannte Drohnen, prägen das Genre. Glaubt ihr, weniger ist manchmal mehr?
MB: Ja, sicher. «Reduce to the max» als Credo.
PS: Dadurch, dass dem Anschein nach wenig passiert, können Details gross wirken, und bei wiederholtem Hören fällt immer wieder Neues auf.
MB: Deshalb würde ich unsere Musik auch als modern bezeichnen: Man kann während des Zuhörens seine Achtsamkeit trainieren.
PS: Wir möchten einen Kontrast bilden zu unserem immer schneller werdenden, unruhigen Alltag, in dem unsere Aufmerksamkeit oft auf vielen Sachen gleichzeitig liegt und wir von Reizen überflutet werden.
Durch diesen konzeptionellen Minimalismus möchtet ihr beim Publikum eine Entschleunigung bewirken.
MB: Meine grosse Hoffnung ist ausserdem, dass die Zuhörer:innen die Musik in ihren Köpfen weiterspinnen. Es freut mich sehr, wenn ich Menschen mit meiner Musik gedanklich an einen anderen Ort transportieren kann.
Ein Grossteil eurer Musik ist frei improvisiert. Meiner Erfahrung nach kann freie Improvisation auch anecken und polarisieren. Wie geht ihr mit negativem Feedback um?
PS: Wenn jemand während des Konzerts in Willisau die Kirche verlassen sollte, merken wir es zum Glück nicht, da stehen wir ja auf der Empore (lacht).
MB: Nein, im Ernst, negatives Feedback erlebe ich in meinem Alltag oft. Leute, die empört den Raum verlassen. Damit kann ich mittlerweile gut umgehen, ausser wenn mich jemand aktiv angreift. Aussagen wie «Das ist doch keine Musik» muss ich oft über mich ergehen lassen. Ich sag mir dann meistens, die haben’s halt einfach nicht begriffen. Es wäre ja auch total eigenartig, wenn meine Musik allen gefallen würde.
PS: Mitte Juni habe ich ein Konzert mit improvisierter Musik gespielt. Zwischen den zwei Sets kam jemand auf mich zu und meinte: «Das ist ja gar nichts.» Darauf folgte ein pädagogischer Input: «Also, eigentlich könntet ihr ja schon was …» Solche belehrenden Kommentare haben weniger mit meiner Musik als vielmehr mit nicht erfüllten Erwartungen zu tun.
Habt ihr manchmal Selbstzweifel?
MB: Der Umgang mit Selbstzweifeln gehört phasenweise auch zu meinem musikalischen Alltag. Ausserdem neige ich zu Perfektionismus. Zu zweit ist das viel einfacher, da kann man sich gegenseitig die Zweifel nehmen.
Ist Perfektionismus nicht auch etwas Positives?
MB: Mein Perfektionismus ist für mich sehr anstrengend, auch wenn das Resultat, das ihm entspringt, meistens gut ist. Philipp hat da einen entspannteren Umgang. Das tut mir gut. Das Leben ist leichter, wenn man nicht immer hundert Zusatzrunden dreht, obwohl man schon lange am Ziel angekommen ist.
Wann ist man denn am Ziel? Was macht ein Musikstück überhaupt «gut»?
MB: Ich glaube, wenn es mit Hingabe und einer gewissen Dringlichkeit kreiert wurde. Schön allein reicht mir nicht.
Kann zu viel Freiheit eigentlich auch einengen?
PS: Ja – und umgekehrt! Die Reduktion auf das Wesentliche kann auch befreiend wirken. Deshalb suchen wir auch diesen Minimalismus und paaren freie Improvisation mit Komposition, um einen Rahmen zu schaffen, in dem wir viele Freiheiten haben.
MB: Es ist wie im Garten: Wenn man Unkraut jätet, haben andere Pflanzen plötzlich Platz zu blühen.
Martina Berther und Philipp Schlotter gehören zu den vielseitigsten Musiker:innen und Komponist:innen der Schweizer Musikszene. Sie sind in der Pop- und Jazzmusik tätig, spielen in Bands, erforschen die Randbereiche der Klangkunst und komponieren Musik für Filme. Als Duo arbeiten sie mit der Orgel, mit Synthesizern sowie dem E-Bass und verfolgen einen experimentellen Ansatz, der zwischen Komposition und freier Improvisation oszilliert. Ihr Album «Matt» erscheint am 29. September beim Luzerner Label Hallow Ground.
