
03.09.23
Tanz mit Materie
Plastik ist überall und unsere Ozeane sind voll davon. Mit diesem Material interagiert die Compagnie O. in ihrer neuen Produktion «Living Matter(s)», die Ende September im Neubad zu sehen ist.
Valérie Hug (Text) und Pascale Lustenberger (Bilder)
Ein riesiger, schwarzer Plastikhaufen liegt mitten auf der Bühne. Mit seinen Hügeln und Zacken erinnert er viel mehr an eine dystopische Landschaft – leblos, toxisch, von der Natur völlig entfremdet – als an den Tanzteppich, der er einmal war. Dann, Bewegungen. Zuerst eine, dann zwei, drei – das Material regt sich, verändert seine Form, wogt wie die Wellen des Meeres. Hätte mensch die drei Performer:innen (Alice D’Angelo, Naomi Kamihigashi und Ambra Peyer) nicht erst noch gesehen, wie sie darunter gekrochen sind, mensch hätte vergessen, dass sie es sind, die dieses plastische Bühnenbild zum Leben erwecken. Immer wilder werden die Wellen, bis sie keine mehr sind und das Meer einem Knäuel gleicht, einem unsicheren Konstrukt, das trotz allem Rettung zu versprechen scheint – eine einsame Insel, ein kleines Boot, die letzte Eisscholle im Meer?
Steht die toxische Bühnenlandschaft für unsere Welt, die immer lebensfeindlicher wird?
Spielplatz der Unsicherheit
In «Living Matter(s)» ist Plastik allgegenwärtig. «Das Material hat mich extrem angezogen», sagt Marie Alexis, künstlerische Leiterin des Stücks. «Einerseits, weil Plastik ein sehr gutes Beispiel für den menschlichen Umgang mit Materie ist: Wir entwickeln neue Materialien, die wir so formen können, wie wir wollen. Andererseits, weil das Material sofort Assoziationen hervorruft. Negative, zum Beispiel in Bezug auf die Umwelt, aber auch poetische zu Naturphänomenen in Bild und Klang.» So bestehen nicht nur das Bühnenbild, die Kostüm-
elemente und Requisiten (Ivalina Yapova und Karen Feelizitas Petermann) grösstenteils aus rezykliertem Plastik; auch der Sound (Serafin Aebli), der im Stück zu hören ist, entstammt dem Material, wird live aufgenommen, manipuliert, verzerrt, bis aus dem Knirschen Meeresrauschen und aus dem Quietschen Vogelgezwitscher wird. Hierin läge das Spannende, ergänzt die in Luzern aufgewachsene Dramaturgin Mona De Weerdt. «Indem das Plastik während des Herstellens geformt wird, ist ihm der Manipulationsgedanke bereits inhärent.»
Szenenwechsel. Wasserfälle aus Plastik, unaufhörlich, bis sie die Performer:innen völlig eingenommen haben – und diese sich in Positionen verknotet wiederfinden, die von Verzweiflung zeugen, um sich im nächsten Moment wieder daraus zu befreien. Das Plastik, das die Bühne bevölkert, bringt und zwingt die Performer:innen zum Agieren und Reagieren. Es nimmt Einfluss auf Bewegungen, ruft sie hervor oder verunmöglicht sie und wird so zum Spielplatz der Unsicherheit, zur Metapher unserer Zeit. Bewegungen werden unvorhersehbar, die Performer:innen wiederum versuchen in dieser toxischen (Um-)Welt zu überleben, einen Ort der Fürsorge und des Miteinanders zu erschaffen und sich mit ihrer plastifizierten Umgebung zu verbinden.
(Über-)Leben miteinander
Plastik: Einst gefeiert als Symbol des Fortschritts, füllt es nun unsere Ozeane, unsere Erde und sogar unsere Ängste. Unsere Gesellschaft hat Plastik geschaffen, um uns den Alltag zu erleichtern, doch jetzt fragen wir uns, ob wir die Kontrolle über dieses Monster jemals zurückerlangen können. In «Living Matter(s)» finden solche Ängste eine künstlerische Übersetzung. Indem der Materie Handlungsmacht zugesprochen wird, entfaltet sich auf der Bühne eine zusätzliche Bedeutungsebene und mit ihr neue Fragen: Steht die toxische Bühnenlandschaft für unsere Welt, die immer lebensfeindlicher wird? Für das Patriarchat, den Kapitalismus, strukturelle Ungleichheiten oder psychische Probleme? Geht es nur um Ängste und Unsicherheiten in Bezug auf unsere Umwelt oder generell um das (Über-)Leben miteinander, um das Schaffen neuer Räume und kleiner Utopien angesichts der aktuellen weltpolitischen Lage? «Solche Assoziationen hatten wir während der Recherche ständig. Wir arbeiten bewusst damit, einen solchen Raum zu kreieren, in dem das geschehen kann», sagt Marie Alexis. «Doch genauso bewusst wollen wir keine genaue Definition geben, das ist den Zuschauer:innen überlassen.» Für sie und Mona De Weerdt ist unser Umgang mit Plastik untrennbar damit verknüpft, wie wir miteinander und uns selbst umgehen. «Deshalb war es uns wichtig, den ganzen Prozess kollaborativ zu gestalten. In einem kapitalistischen System, in dem es um Ausbeutung und Unterdrückung geht, wird auch Resonanz im Sinne von Feedback unterdrückt. Vieles ist deswegen auch implizit im Choreografischen umgesetzt», fügt Mona De Weerdt hinzu.
Die Tänzer:innen, die sich in «Living Matter(s)» wagemutig in dieses surreale Universum aus Plastik stürzen, werden zu Hoffnungsträger:innen, die uns daran erinnern, dass in der Gemeinschaft nicht nur Zuflucht und Trost, sondern auch Kraft und Stärke liegen. Indem sie sich auf Interaktionen mit dem Plastik einlassen, das sich in immer neuen Formen manifestiert, werden die Grenzen zwischen Mensch und Materie auf faszinierende Art und Weise verwischt, wird «Living Matter(s)» zum Tanz mit der Materie, zur Reise in eine ungewisse, aber gemeinschaftliche Zukunft.




