11.09.24
Kunst
Stille Aktivistin
Das Teilen und voneinander Lernen ist für die Arbeit der schweizerisch-vietnamesischen Künstlerin Thi My Lien Nguyen zentral. Mit der Ausstellung «The Women Who Came before Us» im Sic! Elephanthouse in Luzern kehrt sie an den Ort ihrer künstlerischen Anfänge zurück.
Sarah Mühlebach (Text) und Joël Hunn (Bild)
Thi My Lien Nguyen ist viel unterwegs. Gerade noch war sie in Laos und Vietnam auf Recherchereise und auf Besuch bei nahen und entfernten Familienmitgliedern, nun ein kurzer Zwischenstopp in ihrer Wahlheimat Winterthur, dann zum Aufbau nach Luzern für ihre Einzelausstellung im Sic! Elephanthouse, und schon geht’s in einer Woche weiter nach London für ein dreimonatiges Atelierstipendium.
Thi My Lien Nguyen mag Veränderung, in Bewegung sein, Fluidität. Und vor allem mag sie es, verschiedene Dinge gleichzeitig zu tun. Vielleicht etwas, das die Fotografin und Künstlerin mit den «Frauen, die vor ihr da waren», sei es innerhalb ihrer eigenen Familie oder innerhalb einer diasporischen Gemeinschaft, gemeinsam hat?
«Die Themen, mit denen ich mich in meiner Kunst beschäftige, sind eng mit der Person verbunden, die ich in der Gesellschaft bin und repräsentiere.»
Ich treffe My Lien – ausgesprochen wie das englische Wort «Million», diese humorvolle Hilfestellung findet sich auf ihrer Website – an einem sommerlichen Nachmittag in Winterthur. Wir holen uns einen Iced Matcha Latte, spazieren durch die Gässchen der Altstadt und setzen uns ins Gras des «Vögeliparks», bekannt für seine grossen Volieren. Trotz Jetlag ist My Liens Terminkalender bereits wieder voll. Kürzlich ist sie in ein neues Atelierhaus in Winterthur gezogen. Die Kisten warten noch darauf, ausgepackt zu werden, und am Ende unseres Gesprächs wird sie ins Atelier düsen, um schon mal ein Regal aufzubauen. Es scheint so, als gäbe es wenig, was My Lien aus der Ruhe bringen könnte.
Obst und Care
Während wir es uns im kühlenden Schatten der Bäume gemütlich machen, denke ich an eine Arbeit von My Lien zurück, die sie letztes Jahr an der Biennale Weiertal gezeigt hat: «Slices of Love». Im Garten eines ehemaligen Bauernhofes luden niedrige, mit einem Muster von Obststücken überzogene Tische dazu ein, sich ins Gras zu setzen und dort zu verweilen. Im Rahmen einer Veranstaltung servierte die Künstlerin vietnamesische Köstlichkeiten, Obst und Tee. Beim gemeinsamen Essen ging es auch darum, ins Gespräch zu kommen, über alltägliche und vermeintlich selbstverständliche Dinge. Erinnerungen an die sorgfältig geschälten und geschnittenen Apfelschnitze, die mir meine Mutter jeweils für den Znüni mitgab, vermischten sich damals mit Gedanken an den Mental Load, an die emotionale Arbeit, die in unserer Gesellschaft noch immer unsichtbar gemacht wird.
Der Tisch als Ort der Gemeinschaft, als Ausdruck der Zuneigung und Liebe, aber auch als Ort der Reflexion über Care-Arbeit steht sinnbildlich für My Liens künstlerische Praxis: Kochen, Kuratieren, Fotografieren, Vermitteln, Schreiben, Geschichtenerzählen – oft finden diese Aktivitäten rund um einen Tisch statt. 2020 gründete My Lien «Mili’s Supperclub», der gleichzeitig als Plattform, Pop-up-Event, aber auch als privates Catering funktionierte. Die Künstlerin gründete ihn mit dem Ziel, Menschen die vietnamesische Esskultur näherzubringen und gleichzeitig einen Diskurs über Migration, Identität und Zugehörigkeit anzustossen. Seit einigen Jahren organisiert sie zudem die «Gatherings», für die sie mit verschiedenen Ateliergemeinschaften und Communities zusammenarbeitet. Mit offenem Ausgang schafft My Lien einen Rahmen, in dem unter ihrer Anleitung gemeinsam gekocht und gegessen wird und Geschichten ausgetauscht werden können. Zusammen mit Kay Zhang, Paloma Ayala, Engy Mohsen, tracy september und Trinity Njume-Ebong übernahm My Lien 2023 den selbstorganisierten, unabhängigen feministischen Kunstraum Les Complices* in Zürich. Der Raum stellt queere und nicht-weisse Perspektiven in den Mittelpunkt und bewegt sich zwischen zeitgenössischer Kunst und aktivistischer Praxis. Ausstellungen, Diskussionen und Filmscreenings finden ebenso statt wie Koch-Events, Lesungen und Workshops.
Diasporische und postmigrantische Perspektiven und Realitäten sind in der Schweizer Kunst- und Medienlandschaft noch immer keine Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig haben laut dem Bundesamt für Statistik rund 40 Prozent der Schweizer Bevölkerung eine Migrationsgeschichte. Ein Blick auf die Diversität in den hiesigen Kulturinstitutionen zeigt, dass noch viel Arbeit geleistet werden muss. My Lien versteht ihre Kunst auch deshalb als politisch. «Die Themen, mit denen ich mich in meiner Kunst beschäftige, sind eng mit der Person verbunden, die ich in der Gesellschaft bin und repräsentiere», sagt My Lien. «Junge Frau, Person of Color, Kind der Arbeiterklasse und Mitglied einer Diaspora.» Aus diesem Grund sei ihre Arbeit politisch, ihre Kunst verstehe sie als «stillen Aktivismus». Der Anspruch zu vermitteln sei zwar zentral für ihre künstlerische Praxis, allerdings habe sie begonnen, ihre Rolle als Vermittlerin stärker infrage zu stellen. «Raum einnehmen, ohne darum zu bitten. Vermitteln, ohne bevormundend zu sein.»
Die Frauen, die vor ihr da waren
Die Einzelausstellung in Luzern ist auch eine Rückkehr zu My Liens künstlerischen Anfängen. Hier absolvierte sie ihren Bachelor in Camera Arts an der Hochschule Luzern. Seither hat sich ihre Kunst weiterentwickelt: Sie druckt Fotografien auf Vorhänge, schreibt Gedichte, arbeitet mit Video und integriert nun in Luzern erstmals persönliche Objekte in die Installation. Die Ausstellung trägt den Titel «The Women Who Came Before Us». Eine Videoarbeit zeigt nebst Archivmaterial aus dem Familienalbum auch aktuelle Videoaufnahmen von My Liens Grossmüttern, ihrer Mutter und von der Künstlerin selbst bei den oft verborgenen, aufwendigen Vorbereitungen von Mahlzeiten. Es ist ein berührendes Porträt, das die Geschichte dreier Generationen von Frauen zwischen vietnamesischem Erbe und westlicher Gesellschaft miteinander verwebt. Im Video spricht My Lien selbst, fast so, als würde sie eine Geschichte mit einer guten Freundin, einem guten Freund teilen. Und vielleicht ist es gerade diese Offenheit und Gastfreundschaft, mit der sie die Besucher:innen einlädt, Teil einer Erfahrung zu werden und sich willkommen zu fühlen.