30.09.24
Kunst
Nachts, wenn die Nachtmahre kommen
Die Urner Künstlerin Nathalie Bissig zeigt in ihrer Ausstellung «Ninna Nanna» im Benzeholz, welche ungeahnten Freiräume sich zwischen Wachen und Schlafen auftun.
Monika Bettschen (Text)
Wenn man in die Traumwelt hinübergleitet, tut sich eine Zwischenwelt auf, in der aus dem Unterbewusstsein Erinnerungen, surreale Bilder oder Gefühle wie Luftblasen an die Oberfläche steigen. Während die meisten sanft emporschweben, ohne dass wir sie bemerken, bersten andere derart heftig, dass wir uns noch am nächsten Morgen daran erinnern. Oder wie bei einem Albtraum aus dem Tiefschlaf hochschrecken.
Albträume als wesen
In ihrer Ausstellung «Ninna Nanna» im Benzeholz setzt Nathalie Bissig genau bei diesem Zustand an. Das spiegelt sich auch im Titel der Ausstellung wider, der dem Italienischen entlehnt wurde und sich als «Schlaflied» übersetzen lässt. Wenn der Mensch die Kontrolle abgibt, um schlafen zu können, beginnen sich unwirkliche Bilder zu manifestieren, und man erinnert sich vielleicht daran, wie man sich als Kind vor einem Monster unter dem Bett fürchtete.
Nathalie Bissig präsentiert in Meggen neben Zeichnungen, Objekten, Fotografien und einer Videoinstallation auch eine Bilderserie mit dem Titel «Nachtmahre». Unter diesem Begriff stellte man sich in früheren Epochen Albträume als kleine fluide Wesen vor, die nachts Menschen und Tiere anfallen. Bissig hat ihre Nachtmahre fotografisch reproduziert, vergrössert und hinter Glas aufgezogen. Dabei hat sie mit einer alten Marmorierungstechnik gearbeitet: Indem sie Farben auf die Wasseroberfläche tropfen liess, entstanden eigenwillige Formen, die sich einer einfachen Zuordnung entziehen. Dennoch glaubt man, Gesichter und Augen zu erkennen, die einen unentwegt anstarren. «Wenn Menschen sich fürchten, greift das Gehirn zu einer erstaunlichen Strategie: Es versucht, in Dingen, die es nicht einordnen kann, eine Bedeutung zu finden und sie zu personalisieren, um ihnen den Schrecken zu nehmen», sagt Bissig.
Ungeahnte Freiräume
Der Wunsch, Angst in ein fassbares Gegenüber umzuwandeln, blitzt immer wieder in Nathalie Bissigs Werken auf. «Es berührt mich, dass es auf der ganzen Welt Rituale gibt, die anhand von Masken und Kostümen dem Impuls nachgehen, Dämonen auszutreiben und Unheil abzuwenden», sagt Bissig. «Sie stammen aus einer Zeit, als wir uns Blitz und Donner, Erdbeben und Krankheiten noch nicht erklären konnten und diesen Kräften wehrlos ausgeliefert waren.» Ihre fotografische Recherche führte sie während vieler Jahre auch nach Afrika und Asien. «Schon als Jugendliche hat mich die Sinnlichkeit von Ritualen fasziniert.» Mit der Fasnacht aufgewachsen, habe sie begonnen, selber Masken anzufertigen. «Es gefällt mir, dass Menschen während einiger Tage im Jahr zusammenkommen, um kollektiv in andere Rollen und Zustände zu schlüpfen, zusammen albern zu sein.» Für Nathalie Bissig hat das eine ganz eigene Kraft. «Wie im Traum hebt sich dabei die Schranke zwischen Intuition und Intellekt. Eine Grenze, die wir in der Kindheit noch nicht so bewusst gezogen haben.» Dabei würden sich ungeahnte Freiräume öffnen, weil sich hinter Masken auch die eigene Identität auflöse. «Wir Menschen brauchen in unserem rationalen Alltag solche Gelegenheiten des Ausbruchs. Das Bedürfnis, manchmal die eigenen Grenzen sprengen zu dürfen, sitzt tief.»
«Wir Menschen brauchen Gelegenheiten des Ausbruchs. Das Bedürfnis, manchmal die eigenen Grenzen sprengen zu dürfen, sitzt tief.»
Solche Grenzen überwindet die vielseitige Urner Künstlerin in der Ausstellung im Benzeholz etwa mit selbst angefertigten Kostümen, die auch in der Serie «The Wolves» zu sehen sind: Auf Negativ-Fotografien bevölkern Figuren zwischen Traum und Wirklichkeit urtümliche Landschaften. Ohne Abstände angeordnet wie in einem Spielkasten, können die Assoziationen einem mäandernden Bach gleich frei fliessen. Wer sich von dessen Wellen mittragen lässt, erkennt in den Traumfiguren vielleicht sogar das Kind wieder, das man selbst einmal war.