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Porträt Alex Tiefenbacher und Luca Mondgenast

01.05.24

Fürs Verschmutzen belohnt

Alex Tiefenbacher und Luca Mondgenast fühlen in ihrem Buch «CO₂-Ausstoss zum Nulltarif» dem Schweizer Emissionshandelssystem auf den Zahn. Und entdecken darin absurde Anreize für die grössten Verschmutzer.

Florian Wüstholz (Interview)

Wenn man Emissionshandelssystem (EHS) hört, denkt man an Kompensationsprojekte, bei denen Wälder aufgeforstet werden. 

Alex Tiefenbacher: Ja, da geht’s vielen so, ist aber eine falsche Vorstellung, denn beim EHS wird nichts kompensiert. Es ist eines von mehreren Instrumenten der Schweizer Klimagesetzgebung, deren Herzstück die CO₂-Abgabe ist. Die CO₂-Abgabe, der nebst Privatpersonen fast alle Firmen unterstehen, soll Emissionen aus fossilen Brennstoffen direkt einen Preis geben. Zum Beispiel, wenn man die Wohnung mit Öl heizt. Bei Treibstoffen wie Diesel oder Benzin gibt es hingegen keine solche Abgabe, sondern eine Kompensationspflicht.

Luca Mondgenast: Und dann gibt es noch das EHS, in dem mit Emissionsrechten gehandelt wird. In diesem System finden sich mit rund 100 Firmen die grössten Verursacher von Treibhausgasen. Sie stammen vor allem aus der Schwerindustrie: Zement-, Stahl- oder auch Pharmakonzerne. Diese Firmen müssen für jede Tonne CO₂, die ihre Produktion verursacht, beim Staat eine Bewilligung vorlegen – die sogenannten Emissionsrechte. Im Gegenzug sind sie von der CO₂-Abgabe befreit. Aber es wird nirgends ein Baum gepflanzt, weil ein Zementkonzern im EHS ein solches Emissionsrecht abgibt.

Wie hilft dann das EHS, die Treibhausgasemissionen zu reduzieren?

AT: In der Theorie soll das EHS einen Anreiz schaffen, weniger CO₂ zu emittieren, weil die verfügbare Anzahl Emissionsrechte kontinuierlich sinkt. Diese staatliche Verknappung soll dazu führen, dass das Recht, CO₂ auszustossen, immer teurer wird und es sich für Firmen lohnt, umzusatteln.

LM: Das ist die Theorie. In der Praxis zeigen unsere Recherchen, dass das nicht funktionierte. Denn die Konzerne mussten zwar Emissionsrechte abgeben, aber – und das klingt jetzt ein wenig absurd – sie mussten diese nicht kaufen. Der Bund verteilte zwischen 90 und 95 Prozent der Emissionsrechte gratis an die Firmen.

Sie mussten also nichts für ihren CO²-Ausstoss bezahlen?

LM: Schlimmer noch. Sie wurden für ihre Teilnahme am EHS belohnt. Zum einen, weil ihnen die CO₂-Abgabe erlassen wurde. Und zum anderen, weil sie Emissionsrechte, die nicht gebraucht wurden, weiterverkaufen oder für spätere Emissionen zur Seite legen konnten.

AT: Dem Bund entgingen Einnahmen in Milliardenhöhe. Hätten die EHS-Konzerne von 2013 bis 2020 für jede Emissionstonne die CO₂-Abgabe bezahlt, wären das drei Milliarden zusätzliche Abgaben gewesen. Im EHS zahlten sie für dieselbe Menge Treibhausgase nicht einmal 100 Millionen Franken. Einige Firmen konnten durch den Verkauf der Zertifikate sogar noch zusätzliche Millionengewinne einfahren.

Eine davon ist die Firma Perlen, die seit 150 Jahren in Root Papier herstellt.

AT: Ja, die Perlen AG hat proportional zu den eigenen Emissionen am meisten Gratisemissionsrechte vom Bund erhalten, nämlich rund eine Million mehr, als sie eigentlich brauchte. Diese Emissionsrechte haben aktuell einen Wert von rund 57 Millionen Franken. Einen Teil davon hat die Perlen AG bereits für 18 Millionen Franken verkauft. Den Rest kann sie später, wenn der Preis für Emissionsrechte höher liegt, verkaufen.

Wie konnte das passieren?

LM: Grundsätzlich sollen die vom Bund grosszügig verteilten Gratisrechte das sogenannte Carbon Leakage verhindern. Damit will der Staat vermeiden, dass Firmen mit grossen Emissionen ins Ausland abwandern, wo es keine Preise auf CO₂-Emissionen gibt – und auch keinen Anreiz, diese zu reduzieren. Das wird auch in der EU so gemacht.

«Das EHS ist nicht mal ein Ablasshandel. In einem Ablasshandel müsste man wenigstens etwas für seine Klimasünden bezahlen.»

Luca Mondgenast

Hat die Perlen AG aus diesem Grund besonders viele Gratisrechte erhalten?

AT: Ja. Ausschlaggebend war aber auch, dass die Papierfabrik auf den ersten Blick eine Musterschülerin im EHS ist. Sie konnte ihre Emissionen in den letzten Jahren um 90 Prozent reduzieren und musste nur sehr wenige von den zugeteilten Gratisrechten für ihre eigenen Emissionen abgeben.

Und auf den zweiten Blick?

AT: Die Reduktion gelang primär dadurch, dass die Fabrik neu ihre Energie aus einer Kehrichtverbrennungsanlage bezieht und nicht mehr aus der hauseigenen Verbrennung von fossilen Brennstoffen. Dadurch resultierte in ihrer Bilanz im EHS eine riesige Reduktion. Diese Reduktion ist aber nur eine vermeintliche, denn die Emissionen sind ja nicht vollständig verschwunden, sondern tauchen ausserhalb des EHS wieder auf. In den Kehrichtverbrennungsanlagen wird nämlich zu 50 Prozent fossiles Material wie Plastikmüll verbrannt.

Lässt sich beantworten, ob das EHS zu einer Verminderung der Emissionen führt?

LM: Das Beispiel der Perlen AG zeigt, dass die Zahlen sehr genau angeschaut werden müssen. Nicht jede Reduktion der im EHS aufgelisteten Emissionen ist auch wirklich eine Dekarbonisierung. Gemäss unserer Analyse konnten die Firmen im EHS zwischen 2013 und 2020 höchstens 10 Prozent reduzieren.

AT: In der gleichen Zeit konnten die Emissionen im gesamten Industriesektor jedoch um rund 20 Prozent gesenkt werden.

Das ist kein besonders erfolgreiches Resultat.

LM: Im Gegenteil. Geht es so weiter, werden die Firmen bis 2050 niemals das Netto-Null-Ziel erreichen. Durch die grosszügigen Gratisrechte werden sie nicht motiviert, ihre Emissionen zu reduzieren. Das System sabotiert sich selbst.

«Ich wurde noch nie so oft geghostet. Viele Firmen gaben gar nicht oder nur sehr ungern Auskunft.»

Alex Tiefenbacher

Entsprechend bezeichnet ihr das System als ineffizient. Ist es überhaupt noch zu retten?

AT: Auf europäischer Ebene sollen die Gratisrechte durch einen Klimazoll abgelöst werden, der verhindern soll, dass die emissionsreiche Produktion ins Ausland verlagert wird. Mit diesem Zoll müssten Firmen eine Art CO₂-Steuer für importierte Produkte bezahlen.

LM: Damit könnte man der Schwerindustrie endlich einen echten CO₂-Preis verrechnen und ein Preissignal in Richtung Dekarbonisierung setzen. Aus Sicht der Klimagerechtigkeit hat dieser Klimazoll aber auch problematische Seiten. Auch Länder mit historisch geringen Emissionen würden zusätzlich zur Kasse gebeten.

Wie seid ihr darauf gekommen, ein Buch zu diesem Thema zu schreiben?

AT: Das fing an, als wir 2021 über das CO₂-Gesetz abgestimmt haben. Ich wollte eigentlich nur einen kurzen Artikel schreiben. Auf mich wirkte die Debatte so, als seien sich alle einig, dass das Gesetz super sei. Ich habe mich dann in die verschiedenen politischen Instrumente im CO₂-Gesetz eingelesen. Und das EHS war eines davon.

LM: Zufällig endete zu diesem Zeitpunkt auch die letzte Handelsperiode im EHS von 2013 bis 2020. Mir war klar, dass es sehr viele Daten geben wird, die ich analysieren könnte. Damit wollte ich das System visuell aufbereiten, um die komplexen Zusammenhänge verständlich zu machen.

Was ist euch bei der Recherche aufgefallen?

AT: Einzelne Elemente im EHS ergeben durchaus Sinn. Aber wenn man das Ganze betrachtet, ist es schlussendlich ein unfaires System. Die Bekämpfung der Klimakrise wird kosten. Wer bezahlt wie viel? Da stellen sich natürlich Fragen der Gerechtigkeit.

Welche Hindernisse stellten sich bei der Recherche für das Buch?

AT: Ich wurde noch nie so oft geghostet. Viele Firmen gaben gar nicht oder nur sehr ungern Auskunft. Wir mussten immer wieder dafür kämpfen, dass sich Menschen überhaupt für dieses Thema interessieren. Im EHS versammeln sich zwar nur 0,01 Prozent der Schweizer Firmen. Diese sind jedoch für 10 Prozent der Schweizer Emissionen verantwortlich. Auch in der parlamentarischen Debatte um das neue CO₂-Gesetz war das EHS kein Thema. Das ist doch krass.

LM: Um noch einmal auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Die Kritik an Kompensationen ist, dass es ein Ablasshandel sei. Aber das EHS ist nicht mal ein Ablasshandel. In einem Ablasshandel müsste man wenigstens etwas für seine Klimasünden bezahlen. Einige Firmen im EHS werden sogar fürs Verschmutzen der Umwelt belohnt.

Das Buch «CO₂-Ausstoss zum Nulltarif. Das Schweizer Emissionshandelssystem und wer davon profitiert» von Luca Mondgenast und Alex Tiefenbacher ist im Februar 2024 beim Rotpunkt Verlag erschienen.

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Porträt Alex Tiefenbacher und Luca Mondgenast
Alex Tiefenbacher hat Philosophie und Umweltnaturwissenschaften an der ETH Zürich studiert. Seit 2009 schreibt Tiefenbacher für das Online-Magazin «Das Lamm». Luca Mondgenast arbeitet fürs Comic-Magazin «Die Notbremse» und das Online-Magazin «Das Lamm».

Für diesen Beitrag haben mitgewirkt:

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Florian Wüstholz

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