
08.10.23
Film
Die Bienenkönigin
Mit «20 000 especies de abejas» legt Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren ein berührendes Spielfilmdebüt über Sozialisierung, Trans-Sein und familiäre Bindungen vor.
Valérie Hug (Text)
Wann wissen wir, wer wir sind? In einer Welt, die uns oft in Schubladen stecken möchte, kämpfen viele Menschen darum, die eigene Einzigartigkeit zu entdecken und zu akzeptieren. So auch Cocó, die Protagonistin im Film «20000 especies de abejas» (Deutsch: «20 000 Bienenarten») von Estibaliz Urresola Solaguren. In ihrem Spielfilmdebüt erzählt die spanische Regisseurin die Geschichte eines achtjährigen Mädchens, das sich weigert, weiterhin mit seinem Geburtsnamen Aitor angesprochen zu werden. Denn Aitor ist der Name eines Jungen, und Cocó ist keiner.
Dieser mutige Schritt, sich von dem ihr bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht zu distanzieren, stösst bei ihrer Familie im Baskenland auf Widerstand. Vor allem die traditionell denkende Grossmutter nimmt Cocó nicht ernst und findet, dass der «Junge» verwirrt sei und «ihm» Grenzen aufgezeigt werden sollten – Worte, die an Cocós Mutter Ane gerichtet sind. Der Spagat zwischen diesen Anforderungen und der Aufgabe, gleichzeitig für Cocó da zu sein, scheint ihr schier unmöglich. Einzig bei der Grosstante, einer eigenwilligen Bienenzüchterin, trifft Cocó auf Verständnis und wird so angenommen, wie sie ist.
Symbolisch für das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft steht der Bienenstock, in dem jedes Mitglied eine ganz spezifische Rolle spielt.
STARRES GESCHLECHTERSYSTEM
Estibaliz Urresola Solaguren hat sich schon in früheren Filmen mit Identität, Körper und Geschlechterfragen auseinandergesetzt. 1984 in Bilbao geboren, wurde sie schon früh mit eindimensionalen Vorstellungen von «männlich» und «weiblich» konfrontiert. «Ich bin das fünfte von sechs Kindern, und die meisten von ihnen sind Mädchen. Ich fühlte immer einen Unterschied zwischen den Rollen, die mir zu Hause zugewiesen wurden, und dem Verhalten, das ich draussen haben sollte», erzählt Urresola Solaguren in einem Gespräch mit dem Schweizer Filmverleiher Cineworx.
So sei auch die Geschichte zu «20000 especies de abejas» dem Bedürfnis entsprungen, die Grenzen des starren Geschlechtersystems infrage zu stellen. Dieses System «leugnet und bestraft gesellschaftlich die Zwischenzonen, die zwischen zwei Extremen existieren. Diese Verleugnung hat viel Leid hervorgebracht und tut es auch weiterhin», so Urresola Solaguren. Als Teil der Recherche für das Drehbuch trat sie mit mehreren Familien mit trans Kindern zwischen drei und neun Jahren in Kontakt.
Diese Begegnungen haben den Film wie auch die Sichtweise von Urresola Solaguren geprägt. Mit einfachen und dennoch starken Bildern gelingt es ihr, diese Realitäten authentisch auf die Leinwand zu übertragen.
«WERDE ICH AUCH EINMAL SO WIE PAPA?»
Eine tragende Rolle kommt im Film der jungen Schauspielerin Sofía Otero zu, die für ihre Rolle als Cocó an der diesjährigen Berlinale mit dem Silbernen Bären als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde. In einer Szene in der Badi versucht Cocó im gelben Bademantel ihren Körper zu verhüllen und sich einer Mädchengruppe anzuschliessen. Deren Anführerin trägt ein rosafarbenes Shirt mit der Aufschrift «Girls Club», und diese ist es auch, die auf der Mädchentoilette Cocó als Jungen identifiziert. Cocó bricht in Tränen aus. Ebenso vielsagend sind die Fragen, die Cocó an die Mutter, den Bruder und die Grosstante richtet, welche die komplexe Suche nach Identität und die Herausforderungen, vor denen sie steht, verdeutlichen: «Werde ich auch einmal so wie Papa? Denkst du, es lief irgendetwas schief, als ich in Mamas Bauch war? Kann ich sterben und als Mädchen wieder zur Welt kommen?»
«20000 especies de abejas» behandelt jedoch nicht nur die transidente Kindheit, sondern auch den Einfluss familiärer, kultureller und sozialer Traditionen im Leben der Protagonistin und ihrer Mutter. Symbolisch für das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft steht der Bienenstock, in dem jedes Mitglied eine ganz spezifische Rolle spielt. Auf die Frage der Grosstante, wer Cocó sei, antwortet Letztere mit einem Lächeln: «Ich bin die Bienenkönigin», und unterstreicht damit die eigene Einzigartigkeit und Stärke.
EINE KLEINE UTOPIE
In einer Zeit, in der die Vielfalt der Geschlechtsidentitäten und -ausdrücke endlich grössere Anerkennung erfährt und ihre Geschichten mehr und mehr Eingang in Bücher und auf Leinwände finden, erleben wir in unserer Gesellschaft einen alarmierenden Anstieg an Gewalt gegenüber trans Menschen. Allein in der Schweiz ist die Anzahl gemeldeter Vorfälle, sogenannter Hate Crimes, gegenüber queeren Personen von 2021 auf 2022 um fast 50 Prozent gestiegen, wie der «Hate Crime Bericht» der LGBTIQ-Helpline vermeldet. Mit knapp einem Drittel sind trans Menschen übermässig stark betroffen.
Diesen vielen Geschichten von Ablehnung und Gewalt setzt Estibaliz Urresola Solaguren mit «20000 especies de abejas» eine kleine Utopie entgegen. Das ist wichtiger denn je – denn es sind genau solche Geschichten, die Mut machen und trotz Widerstand auf eine liebevollere Zukunft hoffen lassen.
