01.05.24
Theater
Denken ist ansteckend
Im Februar ist René Pollesch gestorben. Der Intendant der Berliner Volksbühne, Autor und Regisseur von über 200 Stücken hat das deutschsprachige Theater zuletzt geprägt wie kaum jemand. Ein Blick auf seine Luzerner Jahre.
Christoph Fellmann (Text) und Georg Anderhub (Bilder)
«Man geht ja fälschlicherweise davon aus, wenn man zwei Personen auf der Bühne sieht, dass die miteinander sprechen; und wenn man eine Person sieht, dass sie denkt. Aber denken kann man nur zu zweit, und sprechen kann man nur alleine.»
René Pollesch, «Fahrende Frauen» (2011)
Das neue Jahrtausend hatte gerade begonnen. Die Türen des Theatersaals standen offen. Es war nach 23 Uhr. Der Saal war voll oder fast voll, sagt die Erinnerung. Jedenfalls laut und ziemlich voll mit Text.
«Sie hat dieses Notebook und kann sich überall einstöpseln»,
rief die Schauspielerin. Sie sass auf einem Sitzsack.
«Aber sie will sich nicht allzu tief in die Verhältnisse hineinbegeben, die sie ablehnt»,
rief die andere. Hinter ihr eine Föhnhaube, in der das Popcorn röstete.
«Stöpsele dich nicht allzu tief in die Verhältnisse ein, die du ablehnst.»
«JA GUT, DANN NICHT!»
«Stöpsele dich nicht allzu tief in das Netz, das du ablehnst.»
«Aber so ein Leben ist mit ziemlich viel Aufwand verbunden.»
«SCHEISSLEBEN SIND MIT AUFWAND VERBUNDEN!»,
rief Heidi Hoh (eigentlich Elisabeth Rolli).
Irgendwann um Mitternacht endete die Show. Das Publikum begab sich aus dem Saal und in die beginnende Party. «Gelockert und erleuchtet», wie Urs Bugmann schrieb, damals Theaterkritiker der «Luzerner Zeitung».
Es war die Saison 1999/2000 am Luzerner Theater. Barbara Mundel hatte, von der Berliner Volksbühne gekommen, das Haus übernommen, es war ihre erste Saison als Intendantin an der Reuss. Sie machte das Publikum mit René Pollesch bekannt, einem nicht mehr ganz jungen Autor und Regisseur, von dem in dieser ersten Saison 13 Folgen einer Theaterserie zu sehen waren, die «Java in a Box» hiess, und schliesslich, als immer mehr Liebe ins Spiel kam, «Java zeigt Gefühle». Ende Saison bilanzierte Bugmann: «Ein Theaterspass, der Fernsehen nicht imitiert, sondern unmöglich macht.»
Ein Spass, der die Theaterkarriere von René Pollesch erst richtig in Gang brachte. «Ich war arbeitslos», sagte er später, «total pleite.» Er habe vier Jahre lang zwar geschrieben, aber nirgends inszenieren können. Dann habe Barbara Mundel angerufen. «Ich hatte ein paar seiner frühen Arbeiten am Theater am Turm in Frankfurt gesehen», erzählt sie. «René hatte da schon diese ganz eigene, eigentlich singuläre Sprache. Und mir gefiel, wie seine Spielerinnen und Spieler auf der Bühne einen Diskurs führten, nie belehrend, dafür humorvoll und unbedingt menschenfreundlich.» Also kam Pollesch im Kurzarmhemd und mit Nickelbrille in die Innerschweiz und erwies sich als genau jener etwas nerdige Menschenfreund, der aus seinen Texten gesprochen hatte.
Aber fertig war sein Theater des ansteckenden Denkens noch nicht. Und so konnte Luzern zusehen, wie René Pollesch hier sein Format entwickelte. Ein seriell gedachtes Theater, das, einmal in Gang gesetzt, nicht mehr aufhörte und über 200 Stücke erzeugte. Ein endlich nicht mehr in die Heterowelt eingerastertes Theater, an dem auch sonst so gut wie alles neu, überraschend und flamboyant war. (Wenn es auch, wie man später lernte, zutiefst inspiriert war von der Arbeit des US-Amerikaners John Jesurun.)
Dieses Theater: dieser Strom der schnell und schrill herausgehauenen Dialoge, diese resolute Vermeidung von geschauspielerter Psychologie, dieser Clash von Theorie – Haraway! Nancy! – und Kalauer, dieses Popgefühl, in eine Geistesblitzmaschine eingestöpselt, geil gebrainwasht und mit Energie und Adrenalin vollgepumpt zu werden; dieses «Theater» liess in Luzern einige ratlos zurück. Viele andere blies es weg. Es machte sie glücklich und ja: befreite sie. Wer das zulassen wollte, dem veränderten die 13 Folgen von «Java» den Blick auf das Theater. Auf das, was Theater ist, und was es auch noch sein kann. Man konnte hier sehen, auf dem Bühnenstreifen zwischen dem eisernen Vorhang und der Rampe: Wie leicht das war, die Regeln des gr. trad. Sprechtheaters zu ignorieren und es anders zu machen. Wie klug und saukomisch.
Aber nein, leicht war es natürlich nicht. Denn René Pollesch hatte zwar ein paar hundert Seiten Text mitgebracht nach Luzern. Aber wie die nun auf die Bühne kommen sollten, mit einem frisch zusammengewürfelten Team, in dem niemand eine klare Vorstellung hatte, was es mit dieser «Horror-Trash-Comedy» auf sich hatte, von der man gehört hatte, dass dieser Pollesch sie herstelle: «Das war ein totales Glück, da dabei zu sein und das gemeinsam herauszufinden», sagt Susanne Abelein, die an allen Luzerner Abenden von René Pollesch spielte: «Es war eine inspirierende und fröhliche Arbeit. Aber natürlich war es auch sehr viel Arbeit.»
Denn wie man Pollesch spielt, das musste auch Pollesch erst noch herausfinden. Also stellten sie ein paar Sitzsäcke auf die Probebühne und fingen einfach mal an. Anberaumt waren sechs Probewochen. Danach kamen die Sitzsäcke auf die Bühne; allerdings waren nicht zehn Folgen von «Java in a Box» bereit, sondern: eine. «Wir haben diese Texte immer wieder gelesen, diskutiert und an unsere eigenen Leben angedockt», erzählt Abelein: «Sowas hatte ich noch nie gemacht. Und dann gab es ja auch keine eigentlichen Figuren, nur diesen Diskursraum, und der war voller Unschärfen und Widerstände. Wenn wir etwas nicht verstanden, hat René ganze Passagen gestrichen und am nächsten Tag neuen Text gebracht. Bis es klar war und wir den Text denken konnten.»
Denn wie man Pollesch spielt, das musste auch Pollesch erst noch herausfinden. Also stellten sie ein paar Sitzsäcke auf die Probebühne und fingen einfach mal an.
Und dann wurde der Text ausprobiert. «René hat die Probe alle paar Sekunden unterbrochen», sagt Ann-Marie Arioli, die als Dramaturgin dabei war. Wenn er den Anflug einer Rolleninterpretation sah oder einen falschen Ton hörte, «dann war er rabiat. Nicht im Sinne von laut oder herrisch. Er hats einfach nicht ausgehalten.» Er wollte nicht, dass die Texte «interpretiert», geschweige gefühlt werden. Nur scharf gedacht. «René lehnte das ganze Theaterhandwerk theoretisch ab. Aber wie das praktisch funktionieren konnte, das mussten wir uns erarbeiten.» Wie auf der Bühne also Spielfiguren erscheinen konnten, die zwar keine realistischen Menschen waren, die aber doch alltägliche Probleme hatten; die so in einen Austausch gerieten und in ein Staunen, was sie gemeinsam alles herausfinden konnten über die Welt (und die Probleme).
Pollesch selber formulierte es später so: «Die Schauspieler gehen auf die Bühne, weil sie etwas wissen wollen, das sich nur mit den dort zusammengetragenen Instrumenten ansehen lässt.» Dazu gehörten die Sitzsäcke, der Text, der Tellerwärmer, die spielenden und schreienden Körper, die Föhnhaube, die Souffleuse und der DJ, die, weil man für jede weitere Folge von «Java» nur noch eine Woche zur Verfügung hatte, praktischerweise auch auf die Bühne kamen. Und die so Teil wurden dieses heiter-verzweifelten Denkflows über die neuen Arbeits- und Liebesrealitäten im digitalen Raum. (Das war 1999. Amazon war ein Online-Buchladen. Aber Pollesch zeigte schon einen prekären Paketboten, der die Bücher – Haraway! Nancy! – mit einem Baseballschläger verschleuderte.)
Dann, im September 1999. Die erste Folge von «Java in a Box». Eine einzige Vorstellung. Volles Parkett. 250 Leute, die nicht genau verstanden, was sie da gerade im Begriff waren zu verstehen. Jedoch pure Geistesgegenwart. René Pollesch sass am DJ-Pult. Barbara Mundel, Ann-Marie Arioli und Ausstatterin Viva Schudt machten Nebel, Seifenblasen und jagten das Konfetti in die Luft. Heidi Hoh rief: «Hört auf rumzuschreien, SCHICKT E-MAILS!» Urs Bugmann schrieb in der «Luzerner Zeitung»: «Die sind alle bescheuert, und das Publikum lacht sich krank.» Und: «Sowas kann nur das Theater. Dass das Luzerner Theater sowas kann, ist allerhand.» Das stand am Montag in der Zeitung.
Und am Montag begann die Arbeit an der zweiten Folge. Dabei war Polleschs Ensemble – Susanne Abelein, Elisabeth Rolli, Ben Daniel Jöhnk und Erich Wyss – doch schon für andere Proben, für ein anderes Stück gebucht. Also stellte Barbara Mundel die vier für Pollesch frei und engagierte Gäst:innen für das andere Stück. Und «Java in a Box» konnte weitergehen. «Barbara gab René den Raum, die Zeit und den Rückhalt, so dass er zwei Jahre lang seine Ideen ausprobieren und entwickeln konnte», sagt Ann-Marie Arioli. «Er konnte abseits der sogenannt grossen Theaterwelt in Ruhe herausfinden, was seine Texte brauchen. In Berlin oder Hamburg wäre das viel härter gewesen.»
Also besprach man am Montag, worum es am Freitag in der zweiten Folge gehen sollte. Am Mittwoch war der Text da. Am Freitag erlebte das Publikum, worum es ging: «Die Identitäten sind in einem globalen Exchange durcheinandergeraten» (Bugmann). Nach der dritten Folge berichtete auch der «Tages-Anzeiger»: «Da läuft eine kleine Sensation am Luzerner Theater, und niemand geht hin», stand da: «Das ist natürlich gelogen, sehr viele gehen hin.» Bis im Dezember 1999 sahen 2000 Menschen die zehn Folgen von «Java in a Box». Es kam das neue Jahrtausend, kamen die drei Folgen von «Java zeigt Gefühle». Es kam die NZZ. Und auch das deutsche Feuilleton berichtete über Mundel und Pollesch in der Kleinstadt, was einige Einheimische zur Behauptung bewog, das Luzerner Theater produziere für ebendieses deutsche Feuilleton und nicht für eben diese Kleinstadt. (Das lag aber weniger an Pollesch als an einem Schlafsack im «Freischütz» und ist darum eine andere Geschichte.)
Nicht alles, was René Pollesch in Luzern machte, war ein Erfolg. «Ufos & Interviews», ein an «Blade Runner» angelehnter Zweiteiler, verkaufte 2001 in sieben Vorstellungen nur 300 Tickets. «Svetlana in a Favela», der letzte Luzerner Abend von Pollesch, kam 2004 in sechs Vorstellungen auf 500 Tickets. Zu «Sushi de Sade», einem kleinen zwielichtigen Zwischenspiel im UG, kam einmal nur ein einziger, schon älterer Zuschauer – um mit Fetischwissen aus den 1930er-Jahren umso mehr zu glänzen. («Ein sehr lustiger Abend», so Ann-Marie Arioli.) Es stimmt schon: Die abendfüllenden Stücke sind, jedenfalls in der Erinnerung, auch künstlerisch weniger gelungen als «Java».
Das sieht auch Ann-Marie Arioli so. «Dieses Konzept: Ihr erlebt uns jetzt beim Denken, das war in Luzern wohl noch nicht abendfüllend. Es war jedenfalls nicht fertig und brauchte einfach noch etwas Zeit. Es ist ja schon so, dass auch René nicht ein Genie war.» Aber vor allem mit «Java» habe Pollesch bewiesen, dass seine Ideen tragfähig seien. Tatsächlich: Der Erfolg der Serie habe Pollesch «unglaublich gefreut», sagt auch Barbara Mundel. «Diese Energie im Saal. Aber auch dass es ihm gelungen ist, die Spieler:innen mit diesen Texten zusammenzubringen, sie einzuladen in seine Welt – das hat ihm sehr viel Selbstvertrauen gegeben.»
Im Sommer 2004 war Barbara Mundel weg, ein Jahr früher als geplant. Und mit ihr René Pollesch. Sätze und Tellerwärmer aus «Java» landeten in Berlin, Hamburg, Wien auf nun viel grösseren Bühnen. Heute sind sie nur noch eine Erinnerung. Urs Bugmann ist pensioniert. Susanne Abelein, Elisabeth Rolli und Ben Daniel Jöhnk spielen immer noch. Erich Wyss wurde Pfarrer. Ann-Marie Arioli übernimmt die Bühne Aarau, Barbara Mundel leitet die Münchner Kammerspiele. Luzern bleibt in Luzern. Fernsehen ist immer noch möglich.
To be continued.
Nur: René Pollesch ist am 26. Februar 2024 gestorben.