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Porträt von Jahn Graf und Markus Beeli, fotografiert von Franca Pedrazzetti

30.09.24

Das neue Normal

Inklusion hat im Kleintheater Luzern Priorität. Zwei Experten sprechen über den Weg hin zu einem nachhaltig inklusiven Betrieb.

Marah Rickli (Interview) und Franca Pedrazzetti (Bilder)

Das Kleintheater Luzern hat mit Ihnen, Jahn Graf, letztes Jahr einen Verantwortlichen für den Bereich Inklusion angestellt. Zudem wird das Theater seit 2019 durch einen ehrenamtlichen Beirat aus Kulturinteressierten mit Mobilitäts-, Hör- und Sehbehinderungen begleitet. Ist Inklusion im Kleintheater dadurch erreicht?

Jahn Graf: Inklusion ist ein nie endender Prozess, auch nicht im Kleintheater. Das Theater hat mit mir einen Selbstvertreter ins Haus geholt, der das Thema unverblümt dem Team spiegelt. Das ist gelebte Inklusion. In vielen anderen Kulturinstitutionen sehe ich statt einer gelebten eine Schönwetter-Inklusion.

Was ist eine Schönwetter-Inklusion?

JG: Menschen ohne Behinderungen gehen in vielen Betrieben das Thema Inklusion oberflächlich an und ohne anecken zu wollen. Doch Inklusion ist unbequem, das mussten auch wir im Kleintheater lernen. Vordergründig sind alle für Inklusion und niemand will Menschen mit Behinderungen diskriminieren oder ausschliessen. Wenn es dann aber um grosse Änderungen geht, heisst es auch mal: «Bringt das wirklich etwas?», oder: «Ist der Aufwand dafür nicht zu gross?» Zum Beispiel in Bezug auf barrierefreies Ticketing und die Einführung von digitalen Reservationsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen, anstatt nur telefonischen.

Inklusion in der Kultur gelingt also nur, wenn Menschen mit Behinderungen am Hebel sind?

JG: Nein, das glaube ich nicht. Wenn eng mit einem Beirat wie im Kleintheater gearbeitet wird, von dem zum Beispiel Markus Beeli Teil ist, dann kann meine Position auch durch einen Menschen ohne Behinderungen besetzt werden.

Bedeutet Inklusion nicht auch, sich Wissen über Behinderungen anzueignen?

Markus Beeli: Es geht mehr um Partizipation. Auch wenn ich viel Wissen habe, kann ich nicht zu hundert Prozent wissen, wie es ist, ein Mensch mit einer Gehbehinderung zu sein. Jahn fährt einen Rollstuhl und weiss vieles darüber, aber wie ein Mensch im Autismus-Spektrum das Theater erfährt, wissen wir beide nicht.

JG: Wir müssen es auch nicht wissen, aber wir müssen mit Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen eng zusammenarbeiten und die Ressourcen dafür einberechnen.

Ist Inklusion ein Modebegriff geworden? Wie Nachhaltigkeit oder Diversität?

JG: Hierzu habe ich eine dezidierte Haltung. Ich sehe, wie kritisch die Behinderten-Community in Bezug auf den Begriff ist, und ich verstehe das. Die Community hat den Wunsch, dass Inklusion gar nicht mehr nötig ist, sondern alles für alle zugänglich ist, dass alle als «normal» angesehen werden. Doch wir müssen realistisch sein: Bei der Mehrheit der Bevölkerung hat der Prozess erst angefangen. Darum ist Inklusion kein Modebegriff, sondern nach wie vor eine Notwendigkeit. Menschen mit Behinderungen sind hier viele Schritte voraus. Daher ist es auch an uns zu übersetzen, was Inklusion ist und was unsere Bedürfnisse sind.

Warum braucht es ein Inklusions-Label wie «Kultur inklusiv», wie es etwa beim Kleintheater der Fall ist?

MB: Wir müssen uns bewusst sein, dass manche Menschen immer noch zum ersten Mal dem Begriff Inklusion begegnen. Um zu sensibilisieren und die Betriebe umzukrempeln, braucht es daher solche Labels. Ein inklusives Label zu etablieren, bedeutet auch, sichtbar zu machen, dass Menschen exkludiert werden.

JG: Das Label zwingt ein Theater dazu, sich mit dem Thema Behinderung auseinanderzusetzen, sich weiterzuentwickeln, und thematisiert auch jene Hindernisse, die nicht sofort erkennbar sind. Auch ich lerne viel. Zum Beispiel, dass Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit zwei unterschiedliche Behinderungen sind und unterschiedliche Bedürfnisse mit sich bringen.

Inwiefern?

MB: Menschen, die gehörlos geboren und sozialisiert sind, benötigen zum Beispiel eher Gebärdensprachdolmetscher:innen. Menschen mit Schwerhörigkeit Untertitel oder Höranlagen.

JG: Ein Mensch, der gebärdet, versteht dann aber zum Beispiel nicht den Witz im Wort «Wohlfühloase», es gibt keine Gebärde dafür. Von hörenden Menschen zu verlangen, dass sie dieses Wissen über die Gebärdensprache haben, finde ich zu viel verlangt.

Wie kann dabei vermieden werden, dass die Arbeit im Bereich Inklusion primär von Menschen mit Behinderungen getragen wird?

JG: Die Situation ist nun mal die, dass Menschen mit Behinderungen aktuell noch den Grossteil der Arbeit machen. Menschen ohne Behinderungen können sich Wissen aneignen, Bücher kaufen von Menschen mit Behinderungen, Podcasts dazu hören, aber wir Selbstvertreter:innen müssen diese Aufklärungsarbeit leisten, sonst verändert sich nichts.

Was macht Inklusion am Theater herausfordernd?

JG: In einem Theater müssen die unterschiedlichsten Bedürfnisse beachtet werden: jene der Organisator:innen, der Besucher:innen oder der Künstler:innen. Das ist sehr anspruchsvoll. Wichtig ist, eine gemeinsame Haltung zu etablieren, dass Inklusion als Norm angestrebt wird. Und ein Bewusstsein dafür, wie der aktuelle Stand Menschen ausschliesst.

MB: Alle Menschen für alles abzuholen ist generell herausfordernd. Menschen, die blind sind, gehen seltener ins Theater, da es sehr visuell ist. Oder Stand-up-Comedy funktioniert für gehörlose Menschen nur begrenzt wegen der Wortwitze. Dennoch ist es wichtig, das Angebot für alle anzubieten und das als Chance zu sehen, über unterschiedliche Bedürfnisse zu lernen und kreativ zu sein.

Haben Sie ein Beispiel?

JG: Das Gebäude, in dem sich das Kleintheater befindet, ist über sechzig Jahre alt. Daher sind die sanitären Anlagen nicht rollstuhlgängig. Nun könnte man sagen, wir haben halt keine rollstuhlgängigen Toiletten – oder wir können nach kreativen Lösungen suchen. Wir haben solche Toiletten im Hotel nebenan gefunden. Ein zugänglicher Betrieb muss nicht hundertprozentig barrierefrei sein. Wichtig ist, dass die Menschen Informationen erhalten. Wir schreiben alles, was wir bieten – und was wir nicht bieten –, auf die Website.

Welche Rolle spielen dabei die Ressourcen?

JG: Ressourcen einzuteilen ist oft eine Gratwanderung. Bleiben wir beim Beispiel Gebärdensprache. Nur weil wir Dolmetschung in Gebärdensprache anbieten, heisst dies nicht, dass sie auch genutzt wird. Wenn wir entsprechende Dolmetscher:innen buchen, müssen wir sie aber bezahlen, auch wenn sie schlussendlich nicht gebärden, weil keine gehörlose Person anwesend ist.

Das Theater muss sich also auch fragen, wie es Selbstvertreter:innen erreicht.

JG: Ja, und welche Formate diese Selbstvertreter:innen besuchen. Wir haben uns im Kleintheater darauf geeinigt, erstmal die Talk-Formate zu übersetzen. Besonders absurd dabei ist: Schreiben wir im Programm «mit Dolmetschung in Gebärdensprache» kommen auch hörende Personen weniger, weil sie denken, das Stück sei in Gebärdensprache.

Das klingt nach vielen Learnings.

JG: Für alle. Inklusion ist kein einseitiger Prozess, Menschen mit Behinderungen müssen dafür auch aus ihrer Comfort Zone treten und Menschen ohne Behinderungen Zeit lassen. Meine Arbeit am Kleintheater ist dafür ein Paradebeispiel. Als ich anfing, hatte das Theater entgegen meinen Erwartungen nicht auf mich gewartet, und ich realisierte, wie es ist, an einem Ort zu arbeiten, der wirtschaftlich funktionieren muss. Aber man hat mir Zeit gegeben, in meine Rolle und Aufgabe zu finden.

Was machte es so herausfordernd für Sie in Bezug auf Wirtschaftlichkeit?

JG: Die Bedürfnisse der Menschen mit Behinderungen entsprechen sehr oft nicht dem wirtschaftlichen Interesse einer Kulturinstitution. Ein Beispiel: Ein Rollstuhl braucht mehr Platz als ein Sitz für eine:n Fussgänger:in. Wir können also weniger Tickets verkaufen und haben weniger Einnahmen, je mehr Menschen im Rollstuhl unsere Vorstellungen besuchen. Wir sind dann zwar inklusiver, aber auch weniger wirtschaftlich. Das musste ich erst mal setzen lassen.

Fehlende Zeit und fehlendes Geld werden oft als Gründe genannt, warum Inklusion nicht gelingt.

JG Es gibt seit zwanzig Jahren ein Behindertengleichstellungsgesetz und Geld ist in der Schweiz genug da für die Umsetzung. Zudem wird ausgeblendet, dass hierzulande 1,8 Millionen Menschen eine Behinderung haben. Kurzfristig macht man bei der Transformation zu einem inklusiven Betrieb vielleicht ein Minus. Langfristig aber ist es ein grosser Gewinn. In diesen Menschen schlummert eine riesige Ziel- sprich Besucher:innengruppe.

Und was ist mit Inklusion auf der Bühne?

JG: Inklusion auf der Bühne ist bei uns sehr schwierig. Der gesamte Backstage ist nicht barrierefrei und Künstler:innen zu finden und trotz der Hindernisse zu überzeugen, dass sie bei uns spielen, ist schwierig. Aber wir sind dran, Wege zu finden.

Werden auch die Bedürfnisse von Menschen mit kognitiven Behinderungen wie Autismus-Spektrum-Störungen berücksichtigt?

MB: Im Moment müssen wir uns noch auf Sinnesbehinderungen und Mobilität beschränken. Es gibt Bestrebungen, einen Sitz im Beirat einem Menschen mit einer kognitiven Behinderung zu vergeben. Wir müssen uns immer wieder fragen, was aktuell möglich ist, was wir schon erreicht haben und was wir noch erreichen wollen. Früher waren Rollstuhlplätze an der Türe separiert. Neu können wir Stühle herausnehmen und Rollstuhlfahrende haben einen Sichtplatz mitten im Publikum.

Was braucht es, damit die Schweiz und damit auch die Kultur inklusiver wird?

MB: Mehr Menschen mit Behinderungen in der Politik. Wir haben viel zu wenig Selbstvertreter:innen in der Regierung. Das liegt einerseits an den politischen Systemen, aber auch an uns Menschen mit Behinderungen, wenn wir uns nicht engagieren. Es braucht zudem Lobbyarbeit für die Umsetzung der Behindertenkonvention und des Behindertengleichstellungsgesetzes. Wenn der politische Druck für Inklusion grösser wird, wird sie eher umgesetzt.

JG: Gewisse Kosten müssten vom Staat übernommen werden, zum Beispiel die Kosten für Dolmetscher:innen. Was viele nicht wissen: Der administrative Aufwand, zu einer inklusiveren Kulturförderung zu kommen, ist absurd. Die Barrieren sind nicht nur in den Räumen, sondern auch auf dem Formular für Gelder. Wir müssen jedes Jahr neue Anträge stellen und belegen, dass wir inklusiv sind. Dabei würden doch Stichproben reichen. Mit dem Publikum und der Mehrheitsgesellschaft habe ich Geduld. Viele Menschen müssen erst lernen, was Inklusion ist und warum gewisse Begriffe oder Handlungen diskriminierend sind. Aber wenn die Politik zwanzig Jahre Gleichstellungsgesetz verschläft, habe ich dafür kein Verständnis.

Jahn Graf ist seit 2023 als Verantwortlicher Inklusion am Kleintheater Luzern tätig. Auf seinem YouTube-Kanal «Jahns rollende Welt» spricht er mit Gäst:innen über Themen aus der Lebenswelt von Menschen mit und ohne Behinderung.

Markus Beeli ist selbstständiger Werber und seit 2019 Mitglied des sechsköpfigen Beirats im Kleintheater Luzern. Gemeinsam mit Céline Dori, Emanuel Wallimann, Sepp Huwiler, Sonja Huwiler und Stefan Freiberger unterstützt Beeli das Kleintheater zu Fragen im Bereich Inklusion und Zugänglichkeit.

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Porträt von Jahn Graf und Markus Beeli, fotografiert von Franca Pedrazzetti
Jahn Graf (links) und Markus Beeli (rechts) engagieren sich für mehr Inklusion in der Kultur – hier im Foyer des Kleintheaters zu sehen.

Für diesen Beitrag haben mitgewirkt:

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Marah Rikli

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