Lesen gegen kulturelle Engpässe. Jetzt abonnieren.
  • Lesen
  • Kulturmagazin
  • Literaturpause
  • Abo
  • Inserate
  • Über uns
  • Spenden
Porträt von Jadwiga Kolwalska, fotografiert von Ralph Kühne

10.11.23

Auto ohne Tür

In ihrem neuen Animationsfilm «The Car That Came Back from the Sea» geht die schweizerisch-polnische Filmemacherin Jadwiga Kowalska ihrer Familiengeschichte nach. Ein Gespräch mit dem deutsch-polnischen Autor Paul Bokowski.

Paul Bokowski (Text) und Ralph Kühne (Bild)

Der Autor Paul Bokowski und die Filmemacherin Jadwiga Kowalska teilen eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten. Sowohl Bokowskis als auch Kowalskas Eltern stammen aus Niederschlesien, Polen, und mussten das Land verlassen, als 1981 das Kriegsrecht verhängt wurde. Dies geschah kurz vor der Schliessung der Grenzen. In ihrer künstlerischen Arbeit setzen sich beide intensiv mit der Fluchtgeschichte ihrer Eltern auseinander, Paul Bokowski in seinem Roman «Schlesenburg» (2022), Jadwiga Kowalska mit ihrem Kurzfilm «The Car That Came Back from the Sea». Sieben Jahre hat die Luzerner Animationsfilmerin an ihrem Projekt gearbeitet, das nun erstmals an den Internationalen Kurzfilmtagen in Winterthur gezeigt wird. Der deutsche Autor, dessen Buch Kowalska inspirierte, führt mit ihr ein Gespräch über diese eine Reise, die kein Ende nahm.

Meine Eltern sind 1981 nach Deutschland geflüchtet, deine in die Schweiz. War die Eidgenossenschaft ihr Sehnsuchtsort?

Eine Woche vorher haben meine Eltern es gerade noch über die Grenze geschafft. Meine Mutter sagt, man hätte es gespürt: Jetzt passiert etwas. Man hätte gewusst: Jetzt wird es nicht mehr lange möglich sein, das Land zu verlassen.

War die Eidgenossenschaft ihr Sehnsuchtsort?

Sie sind zuerst im Durchgangslager in Traiskirchen gelandet. In Österreich. Dort gab es Informationen darüber, welche Länder gerade Geflüchtete aufnehmen. Zuerst hiess es Australien. Aber in dem Moment dachten meine Eltern, das könnte ihnen doch zu weit sein. Zu weit weg. Die Hoffnung, die Familie in der Heimat eines Tages wieder zu besuchen, die gab es noch.

Und das trotz des Eisernen Vorhangs, der Reisen in die alte Heimat schwer oder unmöglich gemacht hat. Was ist dann passiert?

Dann hat auch die Schweiz Geflüchtete aufgenommen, und sprachlich, glaube ich, hatten meine Eltern auch ein bisschen Deutsch gelernt. Schon in ihrer Kindheit. Deshalb war es schlüssiger für sie, in die Schweiz zu gehen als nach Australien. Im Juni oder Juli 1982 kamen sie in Bern an.

Wir haben die Fluchtgeschichte unserer Eltern als Kulturschaffende verarbeitet. Das ist unsere dritte Gemeinsamkeit. Du in deinem aktuellen Film.

Und du in deinem Roman «Schlesenburg».

Die Fluchtgeschichte deiner Eltern, ihr Initialmoment, das war die Grundlage für deinen neuen Animationsfilm «The Car That Came Back from the Sea».

Ich habe 2014 bei einem Comic-Workshop mitgemacht. Dort hatte man das Thema «Auto» für uns vorgesehen. Ich bin kein grosser Fan von Autos. Ich habe nicht mal einen Führerschein. Uns wurde gesagt, es könne auch ein Auto aus der Kindheit sein. Irgendeines. Und ich wusste, bei meiner Grossmutter gab es dieses Bild von meiner Mutter und einem Auto.

In Polen?

Ja. Dieses Auto, das war das Fluchtauto meiner Eltern. Und ich habe die Geschichte angefangen mit diesem Auto.

Ein Fluchtauto spielt jetzt auch eine Rolle in deinem Film: Worum geht es?

Es geht um Jugendliche. Einfach nur um Jugendliche. So wie wir das auch mal waren.

Aber die Szenerie ist anders. Der Film spielt in der Volksrepublik Polen. Im Sozialismus also.

Ja. 1981 war das. Darum geht es. Du bist in diesem Land. In deinem Land. Eigentlich möchtest du nicht viel. Du möchtest einfach deine erste Freundin haben, ins Kino gehen, ein bisschen tanzen, vielleicht mal über die Stränge schlagen, aber du befindest dich in einem System, in dem das nicht möglich ist. Einfach aufwachsen. Das habe ich mir irre schwierig vorgestellt.

Konkret sind es sechs junge Männer, die in deinem Film die Leidtragenden sind. Die aus Langeweile oder Sehnsucht in einem alten Auto 
an die Ostsee fahren. Da geht es erstmal nicht um Flucht.

Das stimmt. Ich wollte nur über dieses Auto erzählen. Was gut war im Prozess, weil es so eine Leichtigkeit hatte, von meiner Seite her, all diese schweren Geschichten erstmal wegzulassen.

Auf den ersten Blick beginnt ein klassischer Roadtrip. Aber dann fängst du an, eine gewisse Schwere einzustreuen.

Die Umstände.

Die politischen Umbrüche, die gewerkschaftliche Bewegung Solidarnosc, die Bürgermilizen, die Geheimpolizei, das Kriegsrecht. Alles davon flackert auf. Bis unter den Protagonisten ein Gedanke aufkeimt: Republikflucht.

Den Jungs wird klar, uns als Betrachter:innen wird klar: Du suchst für dich und deine Nachfahren eine bessere Zukunft. Damals war das der Westen. Du entschliesst, du gehst. Das war die Absicht.

Trotzdem ist es kein Film, der im ersten Moment besonders politisch wirkt.

Ich habe mich gefragt: Inwiefern ist mein Film überhaupt ein politisches Statement? Es ist alles auf die Lebensfreude dieser Jugendlichen reduziert.

Diese Leichtigkeit spiegelt sich auch im Stil der Animationen wider. Vieles ist mit dünnem Strich illustriert. Alles ist aufs Wesentliche reduziert. Es gibt nur die sechs Jungs, ihr Auto und das Abenteuer Ostsee.

Uns gehört die Welt, quasi. Das war meine Intention.

Gleich zu Beginn des Films fällt auf, dass die Jugendlichen alle Männer sind. Erst am Ende wird klar, dass den Frauen in deinem Film eine andere Aufgabe zukommt: Alle Rollen, die das Thema Flucht anstossen oder einführen, werden von Frauen gespielt. War das Absicht?

Das war anfangs eher Zufall. Aber dann habe ich nochmals die Interviews durchgeschaut, die ich für den Film gemacht habe, und tatsächlich hat mein Onkel auf der Aufnahme gesagt, dass es meine Mutter war, die die Idee hatte, zu gehen.

In der Recherche zu meinem Roman habe ich das oft gehört. Dass es eben die Frauen waren, die den Drang hatten, die Weitsicht, den Mut, es überhaupt auszusprechen: Komm, wir hauen ab. Ich finde das wichtig zu betonen, weil Migration oft männlich konnotiert wird. Das letzte Bild im Abspann deines Films bricht mit diesem Narrativ.

Das Foto mit dem Auto. Das kommt zum Schluss. Es ist dieses Bild, wo man meine Mutter auf dem Auto sitzen sieht. Bei meiner Grossmutter im Hinterhof.

In der Recherche zu deinem Film hast du in Interviews die Hintergründe ausgeleuchtet. Hast du eher mit älteren Familienmitgliedern von früher gesprochen oder mit Menschen unserer Generation?

Ich bin ein ziemlich unbeschriebenes Blatt, was die polnische Geschichte angeht. Ich spreche Polnisch, aber ich kenne in der Schweiz nicht allzu viele Pol:innen. Und dann habe ich gedacht, ich frage einfach meine Mutter nach diesem Auto, weil sie ja scheinbar damals dabei war. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich: Okay, jetzt fahre ich nach Polen und finde heraus, ob mir noch jemand etwas dazu sagen kann.

Ein grosses Vorhaben. Du hast alle Zeitzeug:innen selbst interviewt.

Mein Tonmeister hat mir eine kleine Ausrüstung mitgegeben und dann habe ich einfach angefangen.

Gab es gar keine Vorbehalte? Ich habe in der Recherchephase zu «Schlesenburg» oft erlebt, dass es eine Hemmschwelle gibt, diese Episode der eigenen Biografie zu beleuchten.

Das habe ich sofort verstanden. Man sitzt auf dieser Seite vom Tisch, die anderen sitzen gegenüber. Du hast da diese Mikros, die auf sie gerichtet sind, und dann erwartest du etwas. Das ist schon schräg für manche. Man sagt nicht ohne Grund «shooting a film». Es hat schon etwas von Erschiessen. Tatsächlich musste ich meiner Mutter und auch meinen Verwandten erst beweisen, dass ich es ernst meine.

Hast du unterschiedliche Narrative entdeckt, wenn es um die Nacherzählung der Geschehnisse von damals geht?

Es gab ganz viel, das unterschiedlich erinnert wurde. Vielleicht keine ganzen Narrative, aber der Umgang damit. Besonders in den Erzählweisen. Zum Schluss hatte ich über zehn Stunden Audiomaterial. Da wurde offensichtlich, dass ein Verwandter zum Beispiel gerne ein bisschen übertreibt. Eine Tante von mir war eher ruhig und zurückhaltend.

Schüchtern?

Gehemmt vielleicht. Ich glaube, sie hatte immer noch ein bisschen Angst, das Thema anzusprechen.

Weil sie eingeweiht war in die Flucht deiner Eltern?

Ja, vielleicht. Sie hatte immer noch Angst vor den Bürgermilizen und der Geheimpolizei. Als ob man sie noch finden würde. 40 Jahre später. Auch wenn sie nichts gemacht hat.

Du hast es selbst gesagt: Im Zentrum steht das Auto. Auch das Auto als Symbol. Für Bewegung, Migration und Freiheit. Glaubst du, dass das Auto in seiner soziokulturellen Bedeutung heute anders wahrgenommen wird als in den 1980er-Jahren?

Wenn man zusammengepfercht ist in einem Auto, ist das anders als damals? Man muss dann miteinander reden. Das ist noch heute so.

Das Auto als Mittel zur Kommunikation?

Man kann nicht anders. Wenn du dich mit einer Gruppe von Leuten in so ein Auto quetschst, dann beginnt eine Geschichte.

Dann fängt auch eine Reise an.

Genau.

Jadwiga Kowalska hat Animation und Illustration an der Hochschule Luzern und der Akademia Sztuk Piknych in Krakau studiert. Ihr neuer Film «The Car That Came Back from the Sea» (CH 2023, 10 Minuten), an dem sie sieben Jahre gearbeitet hat, kreist um die Frage, wo man hingehört, wenn man nicht weiss, woher man kommt. Im November feiert er seine Premiere an den Internationalen Kurzfilmtagen Winterthur.

Wir brauchen dich, weil guter Journalismus wertvoll ist.

Als unabhängiges Magazin sind wir auf deine Unterstützung angewiesen. Dein Abo ermöglicht es uns, hochwertige Inhalte zu erstellen und unabhängigen Journalismus zu betreiben. Mit jedem Abo trägst du zur Meinungs- und Medienvielfalt in der Schweiz bei, unterstützt die Freiheit der Presse und sorgst dafür, dass lokale Künstler:innen und kulturelle Ereignisse die Anerkennung erhalten, die sie verdienen.

Werde Teil unserer Community und hilf uns, weiterhin kritische und vielfältige Berichterstattung zu liefern.

Kontakt

null41
c/o IG Kultur Luzern
Bruchstrasse 53
6003 Luzern
041 410 31 07
info@null41.ch

Social Media

InstagramFacebookX

Shop

AboEinzelausgaben

Checkout

Literaturpausegangus.chIG Kultur Luzern

null41 ist das Magazin für Kultur, Politik und Gesellschaft der Zentralschweiz. Mit zehn Ausgaben pro Jahr bietet es eine Plattform für das künstlerische und kulturelle Schaffen der Region.

ImpressumAGBDatenschutz
Still «The Car That Came Back from the Sea» von Jadwiga Kowalska
Still «The Car That Came Back from the Sea» von Jadwiga Kowalska