Gentechnik, erlöse mich!

21. Juni 2013: Auf dem Klosterplatz Einsiedeln feiert das neue Einsiedler Welttheater Premiere. Der Regisseur Beat Fäh greift für Tim Krohns Stück in die Vollen und verknüpft viele – zuweilen zu viele –Fäden zu einem wunderlich-ironischen Fabrikat.

(Bilder Judith Schlosser, Gockhausen)

Es beginnt mit einem Wummern. Der Endwind, der 2007 noch bedrohlich durch das Einsiedler Welttheater fuhr, ist nur noch ein Lüftchen, das einige Statisten vor sich hertreibt. Bereits erscheinen die Strassenfeger und verkünden eine neue Geschichte, die Legende eines ertränkten Kindes, das in naher Zukunft wiederaufersteht und den Untergang der Welt einläutet. Erwartet uns erneut ein düsteres Untergangszenario, wie Hürlimann und Hesse es vor sechs Jahren auf dem Klosterplatz heraufbeschworen haben?

Teuer erkauftes «Paradies» Die nun hereinbrechende Zukunftsvision scheint auf den ersten Blick paradiesisch: Gewinnorientierte Gentechniker kreieren den perfekten Menschen, verwandeln Erwachsene in unsterbliche Kinder und «reinigen den Menschen von aller Krankheit». Oder versuchen es zumindest. Denn Rettung scheint die neue Medizin nicht zu bieten, Erlösung schon gar nicht. Die unsterblichen Kinder nerven sich darüber, wieder zur Schule geschickt zu werden. Der «abgewählte Politiker auf Lebzeiten» (ein Seitenhieb auf gescheiterte «Politgrössen» wie Christoph Blocher oder Bruno Frick) kann trotz seines profitablen Netzwerkes aus Wissenschaft und Wirtschaft dem eigenen Tod nicht entrinnen. Das junge Paar, das von einem, nein möglichst vielen gemeinsamen Kindern träumt, fühlt sich von der Gendiagnostik in die Enge getrieben. Lohnt es sich noch, ein Kind zu kriegen, wenn man mit Behinderung rechnen muss?

Menschen, keine Masken Tim Krohns Versuch, die Welttheater-Tradition fortzuschreiben und sich zugleich von seinen Vorgängern abzugrenzen, gelingt. Teilweise hält er sich noch an die klassische Figurenkonstellation von Calder­ón de la Barcas barockem Originaltext; der Reiche, die Schöne, der Bettler usw. sind als solche erkennbar. Doch er bricht ihre Abstraktheit auf sehr menschliche Situationen hinunter, anders als noch in Thomas Hürlimanns Calderon-Bearbeitungen von 2000 und 2007 sehen wir Menschen, keine Masken. Der Bauer, dessen Krätze dank Genbehandlung geheilt werden kann, will dafür das Ausbildungsgeld seiner Tochter abschöpfen – ein modernes, zwischenmenschliches Problem, kein philosophisches Hadern mit dem Schicksal. Die allegorischen Figuren wie die Welt, der Tod oder der Autor sind konsequenterweise weggefallen. Übrig bleibt ein Mensch, der sich selbst mit Hilfe der Wissenschaft zu Gott aufschwingt. Das ist kein neues Thema, aber es wird geschickt genutzt, um Calderons Frage nach der Conditio Humana, den Bedingungen des Menschseins, in die Jetztzeit zu übertragen.

«Ä komischä Abig» – Krohns wunderliche Welt So bleibt auch der Pathos eines Weltuntergangs aus, der in der Gestalt des geheimnissvollen Kindes angekündigt wurde. Dessen Bedeutung für das Stück oszilliert zwischen Drohung und Hoffnung. Sein Auftritt an Anfang und Ende ist sonderbar abgelöst vom Hauptstrang, es sei denn, man will in ihm das ungeborene Kind des verängstigten Paares erkennen. Krohn lässt nicht nur hier den Zuschauer mit den Fragen allein, die er aufgeworfen hat. Wer nach viel Eindeutigem sucht, der geht unbefriedigt nach Hause – das hat der Autor freilich antizipiert, wenn er zum Schluss zwei alte Tratschweiber sagen lässt: «Das isch jetzt ä komischä Abig gsii.» Einzig die Figur des Pater Clemens, die notabene ebenfalls ein Fremdkörper- und Beobachterstatus innehat, darf kurz die moralische Keule gegen die verstiegene Wissenschaft schwingen: «Nöd jedä higg ir Birä isch ä Chranked. Äs Gsicht ohni Narbä isch käs mänschlihs Gsicht. Ihr Holchöpf!» Stante pede holt ihn ein anderer Geistlicher vom hohen Ross: «Etz tuät der auch noch, als wär er heilig.» So bleibt Krohns wunderliche Welt ironisch in der Schwebe: Der Mensch ist weder gut noch Böse, die Welt weder verdammt noch auf dem Weg zum Paradies.

Behinderte Menschen spielen behinderte Menschen Das Menschliche soll in all seinen Facetten auf die Bühne gebracht werden. Das Theater wirft so viele Erzählstränge und Themen auf, dass es ihnen nicht immer gerecht werden kann. Neben den skizzierten Geschichten über die Unbilden der Gentechnik entwickelt sich zum Beispiel ein Theater im Theater: Pater Clemens will einen Schöpfungsmythos auf dem Klosterplatz aufführen, seine Darsteller sind Kinder mit einer Behinderung. Für dieses «Gegenbild» zum wissenschaftlichen Perfektionismus setzt Regisseur Beat Fäh Schauspieler mit einer Behinderung ein, die auf der Bühne sich selber, d.h. spielende Behinderte, spielen. Bei aller gesellschaftspolitischen Legitimität, die eine solche Idee per se hat, kommt ihre Umsetzung nicht um die Kritik herum, dass hier Menschen ihrer Andersartigkeit wegen ausgestellt werden. Im Gegensatz zu anderen Theaterprojekten mit behinderten Menschen kann das Welttheater-Spektakel dem diffizilen Thema nicht gerecht werden.

Gelungene und missglückte Bilder Leider handelt es sich dabei nicht um den einzigen fragwürdigen Regieeinfall Fähs. Unschlüssig bleibt etwa, warum immer wieder ein Kamerateam auf der Bühne das Gezeigte filmt, die damit angedeutete Medienkritik entlarvt sich selber als blutleeres Dekor. Ebenso aufgesetzt und halbgar wirkt eine Demonstration von christlichen Fundamentalisten auf der Bühne – wohl eine Reaktion auf die Proteste dieser Kreise gegen dieses und das letzte Welttheater. Hier wie in der Darstellung der Medien bleibt das Stück allzu handzahm im Vergleich mit Krohns Text, der auch vor derben Fluchtiraden nicht zurückschreckt..

Was Fäh und seinem Choreografen Jo Siska hingegen ausgezeichnet gelingt, ist das Schaffen abwechslungsreicher Konstellationen auf dem riesigen Klosterplatz. Zuweilen entsteht der Eindruck eines grossen Sittengemäldes, wie man es von Peter Breughel dem Älteren kennt: In jeder Ecke geschieht etwas, das Geschehen füllt das Gesichtsfeld des Zuschauers. Dann wieder bewegen sich nur wenige Figuren auf der Bühne, eine beinahe intime Atmosphäre entsteht. Das Einsiedler Welttheater 2013 hat nicht die mythisch-grossartige Ästhetik, wie sie 2007 zu sehen war, sondern eine differenziertere, abwechslungsreiche Bildsprache. Auch die Musik (Carl Ludwig Hübsch) verschmilzt nicht zum Wagnerschen Gesamtkunstwerk, sondern kommentiert oft witzig das Geschehen. Dies passt freilich auch besser zu Krohns Stück, das die grossen Fragen mit viel spielerischer Ironie angeht.

Einsiedler Welttheater; bis 7. September