Zwei Koryphäen und ein Virtuose

Rathausbühne Willisau, 17.11.2017: Der Ton eines Sopran-Saxophons ahmt ein Schiffshorn nach und kündet die Ankunft des fiktiven Dampfers «Virginian» an. An Bord: der Pianist «Novecento». Seine Geschichte werden Albin Brun und Walter Sigi Arnold die nächsten zwei Stunden in Musik und Sprache erzählen. Die beiden tun dies routiniert und mit Nachhall.

«Novecento. Von Alessandro Baricco.» Walter Sigi Arnold spricht den Titel in die Stille. Kurz darauf wähnt man sich weit weg von Willisau, irgendwo zwischen Southampton und New York, zwischen Plymouth und Rio de Janeiro. An Bord des Dampfers «Virginian» spielt die «Atlantic Jazz Band» auf. Die Band besteht an diesem Abend aus einem Solisten: Albin Brun. Er greift in die Tasten seines Schwyzerörgelis, schwankt auf seinem Hocker vor und zurück, stützt sich dabei auf den Fussballen ab, und wippt seine Knie noch im Takt, als seine Töne verklungen sind. Der Moment für den eigentlichen Protagonisten des Abends ist gekommen: Danny Boodman T.D. Lemon Novecento, Titelfigur des Monologs von Baricco.

Walter Sigi Arnold Rathausbühne Willisau

In fantastischen Anekdoten lernt man ihn kennen, den grössten Pianisten aller Zeiten, welche auf der «Virginian» geboren wurde und sie Zeit seines Lebens nicht verlassen hat. Was sich zwischen 1900 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs an Bord zugetragen haben soll, klingt zuweilen wie Seemannsgarn. Ist aber alles «wirklich wahr.» Und: «das muss man sich mal vorstellen.» Wenn Novecento während eines Sturms ungebremst auf seinem Klavier spielt, welches unter Deck hin und her rollt, der Pianist mit dem Ozean eng umschlungen tanzt – dann ist den beiden Herren auf der Bühne die Aufmerksamkeit des Publikums sicher.

Blumig und unverblümt erzählt Walter Sigi Arnold die Geschichte von Novecento. Der Schauspieler aus dem Urnerland macht die Zuhörerschaft der Rathausbühne Willisau zwei Stunden lang vertraut mit dem Pianisten und seinem Leben. Seine unaufgeregte Vortragsweise gibt der Geschichte und seinem Bühnenpartner Albin Brun Raum sich zu entfalten. Der 58-jährige Luzerner Brun gilt als Grösse der zeitgenössischen Volksmusik. Mit Hudigäggeler-Klischees hat seine Musik auch an diesem Abend nichts zu tun. Genre-Grenzen beugt sie sich nicht, sie bleibt schwierig einzuordnen, aber immer passend. «Novecento» erzählt von der Kraft der Musik. Gelesen von Walter Sigi Arnold und untermalt von Albin Brun wird man jedoch auch daran erinnert, wie kraftvoll Sprache sein kann. Im Scheinwerferlicht feiern die beiden das Geschichtenerzählen.

Albin Brun Rathausbühne Willisau

Auf den ersten drei Stufen des Landestegs macht Novecento seine einzigen Schritte ausserhalb der «Virginian». Nach 32 Jahren an Bord möchte er in New York an Land gehen. Doch Novecento kann nicht. Im Angesicht der Stadt, deren Ende er nicht sehen kann, kapituliert dieser Mann der See vor den unbegrenzten Möglichkeiten, die sich ihm an Land bieten. «Wenn die Klaviatur unendlich ist, gibt es keine Musik, die du spielen kannst.» Der grosse – «Der Grösste!» – Pianist spielt ein Leben lang im Bauch eines Dampfers.

Neudeutsch würde man dieses Dasein im immer gleichen Milieu wohl «Bubble» nennen. Eine Bubble, welche Novecento nicht verlassen möchte. Das Überfordertsein mit seinen Möglichkeiten, das Festhalten an Vertrautem: Es sind diese Aspekte der Geschichte, welche einen von den Hochzeiten des Ragtime zwischen den Weltkriegen ins Hier und Jetzt zurückkatapultieren. Hat Novecento richtig entschieden, auf der «Virginian» zu bleiben? Die Frage bleibt auf dem Heimweg von der Rathausbühne Willisau hängen. Wer sie sich nicht stellt – der hat zumindest eine schöne Geschichte gehört.

Fotos: Anja Meier