Zwei Blattländer raubten uns den Verstand!

Ohne Rolf machten auf ihrer bemerkenswerten Herbst- und Wintertournee Halt im Südpol. Weshalb sich die Fahrt trotz Eiskristallen auf dem Fahrradsattel lohnte?

(Von Nick Furrer)

Blaues Licht. Am Boden liegt ein wund geblättertes Büchlein. Der Sehsinn des Publikums löste erste Fragen in dessen Köpfen aus, bevor das Spektakel überhaupt richtig begonnen hatte. Das erste Plakat wird auf die Bühne gefahren: «Das ist nun mal unser Schicksal.» Und da standen sie bereits geordnet nebeneinander, jeder auf seiner dreistufigen Bockleiter mit dem überdimensionalen Schreibblock vor der Brust. Christof Wolfisberg und Jonas Anderhub in schwarz, die die Welt der «Blattländer» dermassen reduziert repräsentierten und aufgebaut hatten, dass nichts von den nackten Plakatzeilen ablenken konnte. Sie begannen, tonlos miteinander zu reden. Pro Satz wurde ein Plakat umgeblättert. Erst der eine, dann der andere. Mal wurde gerufen (die Buchstaben waren gross und fett gedruckt), mal wurde schnell gesprochen (die Plakate wurden schneller geblättert). Die Mimik des Blätternden vermochte die Aussagen glaubwürdig zu unterstreichen. Das simple Prinzip wurde aufgefrischt mit der Idee, das Publikum mittels in Klammern gedruckten Sätzen an den Gedanken der einzelnen Hauptdarsteller teilhaben zu lassen. Soweit war das Prinzip durchschaut. Das Stück startete mit einem Dialog über uns, das Publikum. Schnell wurde klar, dass an diesem Abend wir die Fremden waren. Sie zeigten Unverständnis für jede Form von Lauten. Sie hatten sogar Angst, der Südpol könnte eine Falle sein, so suspekt war ihnen die wortkarge, blattlose Umgebung. Wie die Plakatwelt funktioniert, wurde an alltäglichen Beispielen nachgestellt. Beispielsweise verschlang Christof wortwörtlich Papier. Der gefressene Inhalt beeinflusste seine darauf folgenden Äusserungen. Oder als bei Jonas‘ gedruckten Plakaten allmählich die Druckerschwärze nachliess, meinte Christof mittels blättern: «Du trinkst zu wenig Schwarz.» Darauf Jonas kaum noch lesbar: «Ich weiss.»

Im richtigen Zusammenhang wurden selbst plumpe Wortspiele zum Augenschmaus. Doch Ohne Rolf gaben sich nicht mit herkömmlichen Sprachspielereien zufrieden. «Blattrand» sprengte den vorgedruckten Rahmen immer und immer wieder, so dass bald nichts von der Welt der Sprechenden mehr übrig blieb, was nicht auch in der stummen Welt hätte funktionieren können. Es wurde telefoniert (Jonas blätterte statt die üblichen Plakate etwa Seiten des Telefonbuchs, welches er an sein Ohr legte), es wurde geflüstert (man blätterte ein für das Publikum unlesbares Minibüchlein unmittelbar neben dem Ohr des anderen), es wurde geweint (Papierfetzen kullerten die Wangen herab), bis sogar Bruder Jakob mittels gewitzter Zugtechnik im Kanon gesungen beziehungsweise gezeigt wurde. Einzig die Spontaneität blieb ihnen verwehrt, war doch jedes Wort vorbereitet. Auch stellten sie sich vor, wie wunderbar es sein könnte, Gedanken denken zu können, ohne dass sie für andere zugänglich sein würden. Die Brücke zur sprechenden Welt entstand durch portable Kassettenrekorder. Auf diesen wurden Tonaufzeichnungen abgespielt, als hätten die Apparate ein Eigenleben, eine eigene Stimme. Christof und Jonas kochten deren Tonbänder «à la chef de cuisine» – doch auch nach der «Stimmbändersuppe» blieben die beiden Blattländer zu ihrer Verwunderung stumm. Mein persönlicher Höhepunkt war, als Jonas aus dem Nichts ein Duzend Plakate zu Boden fielen. Man hörte wie sich Teile der Plakathalterung verabschiedeten. Da funkelten die Augen des Kritikers – ein Missgeschick! «So was aber auch!», und «Wie schade!» flüsterte das Publikum. Nach mehrmaligen Rettungsversuchen mussten es die beiden schmunzelnd einsehen – Jonas‘ Plakate waren völlig durcheinander auf dem Theaterboden verteilt. Das Fundament der Aufführung, die Reihenfolge der Plakate, war weg. Das Kapitel wurde seriös übersprungen, Christof legte seinen Teil der Plakate mit freundschaftlichem Kopfschütteln neben sich auf den Boden. Die beiden sammelten sich. Das Stück ging an einer späteren Stelle weiter. Als sie mittels Beutel einige Gedanken der Zuschauer einfingen (Nach hektischem Gang durch die Zuschauerreihen zogen sie vorbereitete, gefaltete Plakate aus dem Beutel und steckten sie an die Plakatwand, worauf sie x-beliebigen Menschen Gedanken wie «Bier» nachweisen konnten), denkt einer der Zuschauer angeblich: «Was steht wohl auf den Plakaten am Boden?» Jetzt war klar, das ganze Missgeschick war ein Fake. Christof begann gespielt verwundert, seine «notfalls» weggelegten Plakate rückwärts aufzuhängen, worauf man Einblick in die Vergangenheit bekam. Ein Geniestreich! Grossartig war es, als gegen Ende ein zufällig gewählter Zuschauer zwischen den beiden Darstellern stand und ebenfalls blätterte – mit einem vorgedruckten Plakatstapel selbstverständlich. Die beiden nahmen den Roten Faden wieder auf, in dem sie ihn über die Nicht-Blattländer ausfragten und was sie tun müssten, um Sprechen zu lernen. Der Zuschauer blätterte dermassen gekonnt und gelassen – war er etwa vorbereitet? Nach diesem kuriosen Gespräch zu dritt gingen den beiden endgültig die Plakate aus, worauf sie bereits gebrauchte aus dem abgelegten Stapel ziehen mussten, welche überraschend gut in den Kontext der Gegenwart passten. Das erste Plakat «Das ist nun mal unser Schicksal» wurde wieder aufgegriffen, der Kreis war geschlossen. Hinreissend. Für die Zugabe brachten sie nochmals Gedanken der Zuschauer zu Blatt. Dinge wie «Haben die das Papier wirklich gegessen?» oder «Haben die das mit dem Zuschauer geübt?». Nicht einmal mehr die eigenen Gedanken schienen mehr spontan. Ist etwa in unserer Welt auch nichts unvorbereitet? Ohne Rolf stellten uns selbstbestimmende, selbstdenkende Kreaturen mit ein paar perfekt kalkulierten Worten bloss.

Heute Abend gibt es ihren zweiten Teil «Schreibhals» im Südpol zu sehen. Selber hingehen, ablachen und zwischen den Zeilen lesen.