Zirkus, Reben, Punk (Teil 2)

Industriestrasse Luzern/Kulturkloster Altdorf, 27./28.08.2016: Ein urbanes Festival in Luzern (Industriestrassenfest), eine Rebbergführung mit Lesung in Altdorf (Wort & Wein). Kann man gleichzeitig beschreiben, was man nacheinander besucht? Lesen und herausfinden!

Hier gehts zu Teil 1.

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17:00 Uhr, die Fahrradreihen um das Festareal wachsen und wachsen. Die Schlangen vor den Verpflegungsständen – nicht in Uniform, wie man es zuweilen ums Seebecken sieht – und ihre Festbänke füllen sich. Nun bedeutet vorankommen auf der Industriestrasse auch ausweichen. Und dann kann man mit einem köstlichen Vegi-Burger vor das türkise Büsschen am einen Ende der Strasse sich hinsetzen und eine Skurrilität beiwohnen. Das Theater LebensUnterhalt hat sich im Wagen eingeschlossen und teilt sich via Boxen auf dem Dach der Welt mit. Die Spielenden pressen sich mit starren Blicken an die Fensterscheiben. Immer mehr hinterlassen ihre Talgdrüsen Spuren auf dem Glas und die Haut beginnt zu glänzen, wird da röter, wo das Blut noch hinkommt, und da bleicher, wo nicht. Recht unterhaltsam die irritierten Ankömmlinge, wenn sie die gequetschten Gesichter erblicken.

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Auch irritierend ist es, wenn Lappert seine Brille abzieht. «Über den Winter», Lapperts neustes Buch, liegt bereit. Lenherr spricht von der Familien- und Gesellschaftsoptik, die es entfaltet, und übergibt das Wort Lappert, der sogleich nach einem Optiker fragt. Gerade vorhin wurde seine Lesebrille durch die Mitte entzweit. Ein Klebstreifen hätte wohl mehr geholfen. Das Modell aus dem Publikum verschafft auch keinen Durchblick. Und so kommt es, dass der Autor beim Vorlesen ständig eine Hand am Gestell hat. Wenn er diese dann beim Innehalten wegzieht, bleibt eine Hälfte der Brille sitzen. Lustiges Bild. industriewortwein – 08

Vielleicht der Höhe-, jedenfalls mit Sicherheit im Mittelpunkt des Festes: Circo manoAmano. Mit halsbrecherischer Akrobatik und clowneskem Humor unterhält das Künstlerpaar aus Argentinien Klein und Gross. Egal von welcher Seite her man angelaufen kommt, hier am grossen Menschenkreis bleibt man hängen wie die Artisten an der Stange in seinem Zentrum. Es ist ein Riesengaudi. Während nicht unweit davon vier adrette Herren mit gemütlichen Saitenklängen die Sonne dabei begleiten, wie sie ihre Strahlen ganz flach über die Dächer der Industriestrasse legt.

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In Rolf Lapperts Roman wird auch gerade jemand flachgelegt. Nicht ganz unamüsant bzw. verstörend, dass in diesem sakralen Gebäude einerseits Verhütungsmittel einige Aufmerksamkeit erlangen und andererseits der Sexualakt von einer Figur als «Kinderspiel» umschrieben wird.

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Musik zum «id Schnorre ha» gibts jetzt auf der Hauptbühne von den Möped Lads, direkt aus dem Sedel eingefahren. Es wird dunkler und kühler um die Häuser – genau der richtige Zeitpunkt dafür, dass die Punker die Massen aus ihrer Hitzelähmung rütteln und Nachtgeister wecken. «Man sollte den Namen dieser persona non grata hier ja nicht erwähnen, aber Kurt Bieder hat uns beim Gang in seine Pension etwas vererbt: eine Liegenschaft! Lasst uns das feiern!» (M. Gössi) industriewortwein – 13

Gössis Krächzen steht ganz im Gegensatz zu Lapperts Stimme. Behutsam muss er sie dem Raum zuführen, damit sie sich im Gewölbe nicht überschlägt. Jedes Wort hallt in zwei Lagen wider. Jede Redepause braucht noch eine Extrasekunde, damit es wirklich ruhig wird. In diese Gedrücktheit mischt sich etwas Melancholie, was aber ganz gut zum Erzählten passt. Manche Zeilen hören sich wie Gedichtverse an und so liest er sie auch vor. Wunderbar! Und dazwischen das Knarzen der Bänke. industriewortwein – 11

Die Velos stehen nun bis Uferlos und Bar 59 an. Unermüdliche Kinder turnen an der Stange von manoAmano herum. Dann schrecken sie zurück. Zwei gesichtslose Badmantelgestalten kommen angeschlurft, in ihrem Schlepptau rollt ein Kubus von Tontechnik, Blinkzeug und Rauchbombe. Er gibt wirre Geräusche von sich. Die Obertonstruktur der Kaulquappe verliert Gepäck, ohne es zu merken. Einige Kinder versammeln sich gwundrig um das rauchende Zeitungspäckchen, andere rennen aufgebracht zu ihren Eltern.

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Nach der Lesung die Fragerunde. Warum sind all deine Protagonisten so entschleunigend? Da muss ich direkt an das Slow Race von gestern denken. Ziel war es, mit dem Velo die paar Meter Rennstrecke so langsam wie möglich abzufahren. Bei Lappert ist es ein Schreibstil. Er berichtet von Arizonas Wüste als Schauplatz-Inspiration und Irland als tollem Ort fürs Schreiben: Man wird in Ruhe gelassen.

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Mit Krankenzimmer 204 neigt sich das Festival dem Ende. Entlang der Strasse wird schon tüchtig aufgeräumt. Der berüchtigte Halbkreis vor der Bühne wurde bei den Lads dankbarerweise von einer Handvoll tapferen Pogern gefüllt, jetzt steht den Schweinwerfern fast nichts mehr im Weg. Ein schwummrig-ekstatischer Klangteppich heult in die Nacht hinaus, wo sich in der Ferne Blitze abzeichnen. Weiter gehts an den Afterpartys in Uferlos und Neubad. Doch das ist eine Geschichte zu erzählen von anderen.

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Der Käse kommt von den anliegenden Tälern, der Rotwein ist liebevoll würzig, der Gaumen kann nicht klagen. Aber lässt sich nicht überhören, dass das Zuhören einem viel Konzentration abverlangte. Lenherr verspricht akustische Besserung: am 7. Oktober mit Franz Hohler wird wieder im Refektorium vorgelesen. Akustik hin oder her, der Blick in die Berge allein hat den Sonntagsausflug gelohnt.

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