Zeitlose Marionetten der gebrochenen Herzen

Luzerner Theater, 25.9.2015: Im Rahmen der Tanz-Reihe des Luzerner Theaters inszenierte Gustavo Ramírez Sansano das romantisch-klassische Ballett «Giselle» als in den 1960er-Jahren angesiedelte Neuadaption. Ein ausgiebig beklatschter Ballettabend.

(Fotos: Gregory Batardon)

Ganz allein in der Redaktion sitzend träumt die schöne Giselle vor sich hin. Ihre gelegentlichen Bewegungen werden untermalt von sanften und behutsamen Violinklängen des Luzerner Sinfonieorchesters. Sie versinkt in Schlaf. Das Tempo wird rasanter. Albrecht betritt die Bühne. Das zügigere musikalische Motiv kündigt bereits bei seinem ersten Auftreten turbulentere Zeiten an. Besonnen schleicht er um die schlafende Giselle. Giselle und Albrecht verlieben sich. Albrecht ist jedoch bereits verlobt. Giselle zerbricht an dieser Tatsache, stirbt und wird zu einer Wilis. Dies sind Geister junger Frauen, die vor ihrer Hochzeit gestorben sind und die Nächte auf Friedhöfen durchtanzen. Denjenigen Zuschauern, denen diese klassische Version des Handlungsballetts geläufig ist, begeben sich bei der Uraufführung der Luzerner «Giselle» auf neues Terrain. Der Bauernhof wird zur Zeitungsredaktion, die Wilis werden zu Nonnen, die Tutus zu bunten, kurzen Kleidchen. Die Bühneninszenierung verschreibt sich ganz dem Stile der 60er-Jahre: Schreibmaschinen, Schnurtelefone, toupierte Frisuren und Hornbrillen wirken hier als prominente Attribute. Stimmig komplettieren sie das ansonsten ziemlich schlichte Bühnenbild, bestehend aus Projektionen von Zeitungsseiten und Bürotischen.

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Eifrig gearbeitet wird bei «Der Neue Merkur», was sich choreographisch durch simultane Schreibmaschinenbedienung sowie energisch tanzende Mitarbeiter äussert. Nur zwei scheinen vom Tumult unberührt: Giselle und Albrecht. Blicke rechts, Blicke links, zusammenrückende Schreibtische — so gar nicht verstohlen nähern sich die beiden an. Dieses Spiel kulminiert in ihrem ersten gemeinsamen Pas de Deux. Die Choreographie ist leidenschaftlich, der Tanz einwandfrei. An der Verliebtheit könnte noch etwas gefeilt werden, die kommt nicht ganz rüber. Das Blatt wendet sich rasch — Albrechts Beziehungsstatus entpuppt sich wie bereits erwähnt als verlobt. In den parallel ablaufenden Soli werden die Körper der Liebenden vom Schmerz beherrscht. Das Innere dringt nach Aussen. Albrecht und Giselle werden zu Marionetten ihrer gebrochenen Herzen. Das Leid der Figuren manifestiert sich in der ausdrucksstarken choreographischen Sprache und ergreift. Die Komposition gewinnt zusehends an Dramatik. Giselle bricht zusammen. Mit ihren Händen verdeckt sie ihren halbnackten Körper und betrachtet sich im Spiegel. Verletzlich wirkt sie, entblösst. Kurz darauf wird Giselle von der Novizinnen-Tracht verhüllt. Ein Abschied von ihrer Sinnlichkeit, die Albrecht frivol ausgenutzt hat. Ein starker und symbolisch geladener Beginn des 2. Aktes. In diesem bekommen die Nonnen dann doch etwas zu viel Raum. Lieber hätte man den beiden Protagonisten noch etwas mehr gemeinsame Tanzzeit geschenkt.

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Als Albrecht eine Geliebte aufsucht und um Verzeihung bittet, folgt die berühmte Passage, in der die Wilis (hier Nonnen) um die Tugend der hin- und hergerissenen Giselle kämpfen. Durch die beharrlichen, sich wiederholenden Bewegungssequenzen der Ordensschwestern wird für das abschliessende Grand Pas de Deux reichlich Spannung aufgebaut. Und genau deshalb hätte dieses ruhig etwas gedehnter ausfallen dürfen. Insbesondere, da auch der Draht zwischen den beiden Liebenden um einiges gefestigter wirkt als noch zu Beginn. Die Integration des klassischen Werkes in eine zeitgenössischere Szenerie gelingt, ohne der Grundthematik die Show zu stehlen. Die Kraft, Willkür und Zerbrechlichkeit der Liebe bilden auch in Sansanos «Giselle» das Fundament. Durch die Ansiedlung in einer zeitgenössischeren Epoche verliert die Geschichte ihre Zeitgebundenheit. Passend zu den 60er Jahren wirkt das Getanzte etwas kräftiger und härter als in den klassischen Versionen. Die Tempi der Ballettmusik von Adolphe Adam bleiben dabei flexibel und zeichnen sich durch eine dynamische und tänzerische Phrasierung aus. Der kurzweilige Ballettabend endete mit reichlich viel Applaus — wohlverdient.  

Weitere Aufführungen: 3.10., 4.10., 10.10., 18.10., 21.10., 1.11., 5.11., 8.11., 12.11., 27.11., 29.11., 11.12. und 13.12.   Gustavo Ramírez Sansano: Konzept und Choreografie Boris Schäfer: Musikalische Leitung Luis Crespo: Bühne Bregje van Balen: Kostüme Dramaturgie: Lucie Machan Aurélie Robichon: Giselle, Eduardo Zúñiga: Albrecht