Zeichenstift für ein Halleluja

Luzern, 14.3.2015: Jedes Jahr ist Luzern wieder im Comic-Fieber. Das internationale Comix-Festival Fumetto infiltriert zahlreiche Standorte in der Stadt und lässt die Menschenmassen in die Welt von Ligne Claire, Onomatopoesie und Denkblasen eintauchen.

Wo sollen wir beginnen? Das ist eine der Hauptfragen beim Besuch des Fumettos. Wer am Bahnhof Luzern ankommt, schlendert am besten in das Kunstmuseum Luzern, wo neben den regulären Kunstausstellungen jeweils der Pilatussaal mit einer Koryphäe der Comicszene bestückt wird. In diesem Jahr gehört die Ehre dem Norweger mit dem Namen Pushwagner. Der 1940 in Oslo geborene Terje Brofos gilt als Enfant Terrible der nordischen Zeichner. Mit seinem legendären, extrem gesellschaftskritischer Comic-Roman «Soft City» prangert er die soziale Gleichförmigkeit und die Monotonie des Grossstadtlebens an. Besonders eingängig gestalten sich die akribischen Zeichnungen von Gebäudezeilen, Parkhäusern und Menschenmassen. Bei den ausgestellten Zeichnungen handelt sich um Einzelblätter eines fiktiven Tagebuches, dass Pushwagner ursprünglich für seine Tochter erstellt hat. Der pedantische Zeichner hinterlässt mit den zusätzlich gegenübergestellten knallbunten Ölgemälden einen Beigeschmack zwischen George Orwells 1984 und einem Art-Brut-Künstler.

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Weiter geht es auf dem Motorschiff Rigi, das in der Mole vor dem KKL unter dem Patronat von «Kunstaheu» geführt wird. Der spanische Illustrator Miguel Gallardo hat es sich auf dem ausrangierten Schiff gemütlich gemacht und ein kleines Universum seiner Familiengeschichte erstellt. Alles begann vor 20 Jahren, als seine autistische Tochter Maria geboren wurde. Seitdem setzt sich Gallardo zeichnerisch mit der gemeinsamen Autobiografie von Vater und Tochter auseinander. Durch den Zeichenstift hat er einen unverwechselbaren Zugang zu seiner Tochter gefunden, welche ihrerseits vor kurzem zum Stift gegriffen hat und innerhalb einer manischen Auseinandersetzung selbst begann, ihre Lebensgeschichte dessiniert zu verarbeiten. Schon nach zwei Orten verspürt man die visuelle Eindringlichkeit der ausgestellten Werke und sollte sich Gewahr sein, genügend Nahrung, Wasser und Zucker zu sich zu nehmen um den bevorstehenden Marathon auch meistern zu können. Glücklicherweise lädt die geographische Disposition des Festivals zu ausgedehnten Spaziergänge zwischen den Veranstaltungsorten, was sich immerzu förderlich auf die Begegnung mit Freunden und Bekannten auswirkt.

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Einen zum Schmunzeln anregenden Besuch bei Cowboy Hank – auf Papier gebracht von Peter van Heierseele aka Herr Seele – gibt es bei Neustahl an der Hirschmattstrasse. Cowboy Henk ist eine belgische Persiflage auf den amerikanischen Cowboy-Kult, der mit eurozentrischen Blick durch den Kakao gezogen wird. Der Hüne mit blonder Elvistolle, und Andy-Egli-Kinnarchitektur ist ein Fettnäpfchenmeister und grandioser Liebhaber (präsentiert im Separée für Erwachsene). Ausgestattet mit einer grossen Portion Narzissmus durchschreitet Cowboy Henk das Alltagsleben und lässt den Betrachter an seinen absurden Abenteuern teilhaben.

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Einen Katzensprung entfernt wird man in eine vermeintlich düstere Welt von Krieg und Tod eingelassen. Neben dem Paris aus vergangenen Zeiten spielen die grossen Weltkriege die Hauptrolle im umfangreichen Œuvre von Jacques Tardi. In einer mehrbändigen Comicserie verarbeiten Tardi die traumatischen Erlebenisse seiner Vorväter zu einem ausdrucksstarken Gesamtkunstwerk. Einer seiner Hauptcharaktere, ein zwielichtiger Privatdetektives, ziert das Cover des Fumetto-Handbuches und lässt Tardi quasi zum Hauptkünstler des Festivals avancieren. So ist ihm praktisch jeder Winkel des Neubades gewidmet, sei es mit unzähligen Auszügen aus seinem Werkzyklus, aufgeblasenen Zeichnungsdetails oder artifiziellen Requisiten. Kann mir mal jemand die Tierpräparate erklären?

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Ansonsten wird man regelrecht erschlagen von der Wiedergabe kriegerischer Handlungen, was die intensive Auseinandersetzung Tardis mit dem Krieg widerspiegelt. Vielleicht braucht es gerade diese Masse an repetitivem Gräuel von und an der Menschheit, um die Vergangenheit nicht vergessen zu machen. Tardis zeichnerisches Inferno hinterlässt beim Publikum Spuren einer schwermütigen und dramatischen Zeit, die ein latentes Unbehagen hervorrufen können. Sein zeichnerischer Stil mit einrahmender Ligne Claire evoziert die Schrecken des Krieges zusätzlich.

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Der kleine Schwammteil im Gehirn, der für die Aufnahme von visuellen Bildern und Text verantwortlich ist, mag längst gesättigt sein und lässt einem als Erhascher von Kurzimpressionen durch den Rest des vielfältigen Fumetto-Angebots schlendern. Das beliebte Festivalzentrum in der Kornschütte ist an diesem sonnigen Samstag ebenso überlaufen wie die (etwas zu) kleine Wettbewerbszone im Am-Rhyn-Haus. Das Fumetto freut’s und wir sind eingedeckt mit einer Jahresportion an Comic-Abbildungen. Was will man mehr?