Wie lange dürfen unsere russischen Freunde noch auf Facebook?

Mittwoch, 14.12. Podiumsdiskussion im Romerohaus: «20 Jahre ohne Sowjetunion». Ein Jubiläum, das angesichts der aktuellen Geschehnisse in Russland wenig Anlass zum Feiern bietet.

Am Tag der Bundesratswahlen wurde am Mittwoch im Romerohaus weit über die helvetischen Grenzen hinaus in die post-sowjetischen Staaten hineingeschaut. Unter dem Titel «20 Jahre ohne Sowjetunion» sollten der russische Fernsehjournalist Alexander Sambuk und der Moskau-Korrespondent Christian Weisflog über die Entwicklungen innerhalb der ehemaligen Sowjetrepubliken seit dem Einsturz des sozialistischen Experiments diskutieren. Unter der Leitung des Moskau-Korrespondenten Max Schmid, bekannt aus dem Radio DRS, wäre nicht nur ein Gespräch über den Wandel der Politik, sondern auch des gesellschaftlichen Lebens geplant gewesen. Aus aktuellem Anlass richtete sich das Augenmerk der Runde allerdings mehrheitlich und unvermeidlich auf die Wahlen. Die russischen Wahlen. Verständlich natürlich, dass die jüngsten Wahlfälschungen und der daraus erwachsene Protest im Riesenland etliche andere vorgesehene Schwerpunkte des Abends verdrängten. Trotzdem – gerne hätte ich noch etwas mehr über die ex-sowjetischen Lebenswelten erfahren. Man musste sich mehr oder weniger mit den Andeutungen begnügen, der Küchentisch spiele irgendwie eine noch viel zentralere Rolle als im Westen. Langeweile kam im überraschend vollen Romerohaus dennoch nie auf. Dafür bietet das Thema auch zu viel Zündstoff: Weshalb lehnt sich das oft als träge beschriebene, an scheindemokratische Zustände gewöhnte Volk nun überhaupt auf? Wohin führen die mitunter grössten Proteste in Russland seit dem Ende der UdSSR? Für Weisflog ist mit Putins erneuter Präsidentschaftskandidatur die Maske der Demokratie gefallen. Grosse Teile des Volkes hätten seit dem Beginn der Wirtschaftskrise begriffen, dass Russland keinen rosigen Zeiten entgegensteuert und der vorherige Wirtschaftsaufschwung weniger Putin, als den Ölvorkommnissen des Landes zu verdanken war. Die Angst einer drohenden sechsjährigen Amtszeit Putins löse das Gefühl einer Rückkehr zur sowjetisch-undemokratischen Regierungsform aus. Und dies hätte die Leute am 10. Dezember dazu veranlasst, gegen die Wahlfälschungen zu demonstrieren. Sambuk hingegen gab aber zu bedenken, dass die Masse der Protestanten aus jungen Menschen besteht, welche die Sowjetzeit gar nicht erlebt haben. Für ihn ist dies Ausdruck einer neuen russischen Mentalität: Mit dem Protest gegen den Wahlbetrug stellen die Demonstranten einen Bezug zwischen den Wahlergebnissen und ihren persönlichen Vorstellungen der Zukunft her. Damit Putin jedoch in seinem Glauben, die Proteste würden wirkungslos wieder versanden, erschüttert wird, muss die Zahl der Demonstranten gemäss Weisflog noch auf über 50‘000 steigen. Wichtigstes Informations- und Kommunikationsmedium dafür – da sind sich die Experten einig – ist wie auch für den arabischen Frühling das Internet und nicht das staatlich kontrollierte Fernsehen. Allerdings müsse man bei einer Radikalisierung der Proteste nicht nur mit physischer Gewalt der Regierung rechnen, sondern auch mit einer Blockade der wichtigsten Internetplattformen. «Ich warte, wie lange Facebook in Russland noch funktionieren wird», so Weisflog. Sollte es in Russland zu einem demokratischen Wandel kommen, würde dies nach Ansicht des Moskau-Korrespondenten Konsequenzen für den gesamten post-sowjetischen Raum nach sich ziehen. Mit Sambuks Worten bleibt uns allerdings nur abzuwarten, «welche Farbe diese Revolution bekommen wird oder, ob es überhaupt eine Revolution ist.»

Diejenigen, die sich die Zeit bis dahin verkürzen möchten und sich mehr Wissen über die anderen Staaten aus dem ehemaligen Raum der Sowjetunion aneignen möchten, lesen Christian Weisflogs Buch: Das explosive Erbe der Sowjets. Von Kaliningrad nach Kabul. Eine politische Reportage.