Wer hat Angst vor der Angst?

Südpol Künstlerwohnung, 04.02.2014: Gestern fand, nach zwei Previews im letzten Jahr, die Generalprobe von «Draussen die Stadt» statt. Entstanden ist eine multimediale Tour de Force, die die theatereigene Intimität des Zuschauers bricht und Sehgewohnheiten auf mehreren Ebenen unterminiert.

Mit der Voranstellung philosophischer Zitate ist das so eine Sache. Entweder versucht man mittels des ach so gescheiten Aphorismus die fehlende Qualität des Werks zu kaschieren, oder sagt, was man eigentlich mit der erzählten Geschichte sagen wollte. «Angst hat den ganzen Kopf voller Augen», eine Äusserung Friedrich Nietzsches, begleitete im Vorfeld den Web- und Medienauftritt der neuesten Zell:Stoff-Produktion (mit Patric Gehrig als künstlerischem Leiter). Der Satz funktioniert in diesem Fall, weil er zum stückinternen Prinzip wird, der sämtliche Szenen betiteln könnte. Der Alltag eines an Panikattacken erkrankten Schauspielers wird zu einem verschachtelten Spiel aus Sehen und Gesehenwerden, das auch den Zuschauer dazu zwingt, den ganzen Kopf voller Augen zu haben. Tom (Patric Gehrig) verlässt seine Wohnung nicht mehr. Briefe und leere Flaschen stapeln sich, der Anrufbeantworter ist zum Archivar der Stimmen des Draussen geworden. Tom hört ihn ab, ohne eine Miene zu verziehen; es geht ihm lediglich darum, das Draussen vom Drinnen zu unterscheiden und die Kontrolle über beide Teile zu behalten. Seine Freundin Pia (Annette Lober) hält seine Angst vor dem Kontrollverlust über das eigene Ich nicht mehr aus, will wieder leben und verlässt ihn schliesslich.

Autor Dominik Busch liess für «Draussen die Stadt» mehrere Fallgeschichten einfliessen, um die zerstörende Wirkung von Panikattacken auf zwischenmenschliche Beziehungen in einer klassischen Paarsituation zeigen zu können. Auch Patric Gehrig selber erkrankte 2012 an Angststörungen. Er und Lober spielen ihre Rollen in einer zuweilen unheimlich minimalistischen Weise, die den Zuschauer irritieren kann. Aber nicht lange. Nämlich bis man merkt, dass diese beiden eigentlich keine überzeichnete Theaterrolle mehr spielen, sondern Menschen, die wir kennen könnten und deren Privatsphäre wir gerade voyeuristisch durchforsten.

«Draussen die Stadt» ist in einigen Belangen so filmisch, wie ein Theaterstück überhaupt sein kann. Mittels einer statischen Beamerprojektion werden Räumlichkeiten gezeigt, die wir nicht sehen können und in denen die Figuren gerade streiten, spielen oder bei einer fiktiven «Panic Hotline» um Hilfe suchen. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers schweift so hin und her und im Kopf des Zuschauers entsteht ein Film, der die Fragmentierung des Ichs bei Panikstörungen und den von Kontrollsucht getriebenen Versuch des nachträglichen Zusammenleimens für den Zuschauer spürbar macht.

Ein zentrales Element, dass diese fragmentarische Stossrichtung ebenfalls forciert, ist, dass die direkte und indirekte Rede (die Beschreibung des Geschehens) von Tom und Pia nahtlos ineinander über laufen und so für eine stetige Verdopplung und Verschachtelung der Theatererfahrung sorgen. Ein Theater, dass so nah ist wie möglich, den Zuschauer akustisch, visuell und erzähltechnisch ständig vor den Kopf stösst und die übliche Intimität zwischen ihm und den Spielern bricht. Nur auf diese Weise, indem man den Zuschauer an Orte bringt, an die er gar nicht hin wollte, kann man wohl dafür sorgen, dass «Panikstörung» nicht nur ein Wort bleibt, eine Schublade, die einordnet und relativiert. Ein erhellendes Kammerspiel fernab klassischer Theatervorstellungen.

Künstlerische Leitung: Patric Gehrig (Idee und Konzept), Dominik Busch; Text: Dominik Busch; Regie: Sophie Stierle; Spiel: Annette Lober, Patric Gehrig; Musik / Komposition: Mareike Hube; Szenische Einrichtung: Nina Steinemann; Video / Licht & Tontechnik: Kevin Graber. Aufführungen: MI 5. Februar (Premiere) bis SO 9. Februar, 20 Uhr, Künstlerwohnung Südpol. Weitere Informationen