Wenn das Arbeiten zum Werk wird

Wie wird man Künstlerin? Ist es überhaupt ein Werden oder eher ein Sein? Wann und warum fällt die Entscheidung, das berufliche Leben der Kunst zu widmen – fern dem Hobbykünstler und seinen Aquarellmalkursen in der Provence? Wie fühlt es sich an, ein Werk geschaffen zu haben? Antworten am Beispiel der Luzerner Künstlerin Sereina Steinemann.

(Von Alessa Panayiotou)

Natürlich sind diese Fragen viel zu allgemein gestellt, ohnehin weitaus zu stark im Schubladendenken verankert und zu definitiv-terminierend gestellt, schliesslich bleibt man nicht Künstler, nur weil man es einmal war (ungleich beispielsweise einer Coiffeuse), muss sich ständig neu beweisen und definieren. Trotzdem: Ein völlig unobjektiver, nicht auf Vollständigkeit bedachter Bericht über den Weg hin zum ersten ‚richtigen’ Werk der Luzerner Künstlerin Sereina Steinemann.

Schon beim gemeinsamen Schulbankdrücken zeigte sich, dass Sereina sich nicht ausschliesslich für Algebra interessiert. Philosophie-Lektionen erwiesen sich als genauso fruchtbar für gekritzelte Bleistiftzeichnungen wie das Erlernen des heraklitschen «Alles fliesst». Kultur bestimmte denn auch das ausserschulische Leben: Mitspielen in der Jugendtheatergruppe Playstation, Arbeiten im Kunstmuseum Luzern und Schreiben von Kinorezensionen. Ja, man könnte sagen, die Ausrichtung auf die Kunst scheint evident. Allerdings nicht ohne einen Schlenker ins, vielleicht macht sich Überraschung breit, Politologie-Studium in Zürich; aber mit Kunstgeschichte im Nebenfach, muss angemerkt werden.

So sehr die Aufnahme geistiger Nahrung seinen Reiz hatte, so sehr fehlte Sereina die Möglichkeit, etwas Eigenes zu kreieren. Das selbständige Praktizieren, das Schaffen aus sich selbst, gleichsam aus dem Nichts, schlug die universitäre Wissensaufnahme mit anschliessender Weiterverarbeitung. Im Schulvergleich zeigt sich der Studiengang «Freie Kunst» in Bern dem freiem Arbeiten, nomen est omen, am förderlichsten. Sereina zog also aus, um Künstlerin zu werden. Freiheit ist allerdings – von zahlreichen Kritikern antiautoritärer 68er-Erziehung unlängst festgestellt – sowohl Segen als auch Fluch. Arbeiten ohne Vorgaben und Limitationen birgt Gefahren der Verzettelung. Unbegrenzte Möglichkeiten machen das Fokussieren auf und das Finden von etwas spezifisch Eigenem schwierig. Die Situation ist tatsächlich nicht bar einiger Absurdität: Man stelle sich vor, ohne einen Vorkurs zu belegen, kommt man an die Hochschule der Künste, erhält einen Atelierplatz zugewiesen und wird von heute auf morgen, von Beginn an, als Künstlerin bezeichnet und behandelt.

Dass es bei diesem Wurf ins kalte Wasser Mühe macht, sich mit dem Terminus postwendend zu identifizieren und sich in der gravierend selbstreflexiven Suche nach dem eigenen Stil nicht in Ansprüchen zu verlieren, versteht sich von selbst. Nach zwei Jahren des Pröbelns und Suchens war für Sereina klar, wie sie nicht arbeiten will. Dieses negative Ausschlussverfahren erwies sich als sehr fruchtbar. Der Pathos der frühen Arbeiten sollte abgelegt werden ohne aber die bereits ausgearbeitete zentrale Fokussierung auf das Sammeln, Archivieren und den Umgang mit Bildern, sowie deren Beziehung zu Text zu verlieren. Die Faszination für Letztere, so die scheue Vermutung der Autorin, könnte einen ihrer Ursprünge auch in der Klatschheft-Leidenschaft der Künstlerin haben. Man denke an die teilweise sehr an den Haaren herbeigezogenen Bild-Text-Bezüge in den Gossip-Printmedien: Brad blickt auf den Boden, Angelina macht ein angestrengtes Gesicht und schon ist die Bildunterschrift: «Ehekrise! Brangelina haben sich nichts mehr zu sagen!» gerechtfertigt. Diese Lenkung der Bildbetrachtung durch Text, ohne die schriftliche Erläuterung würden wir den Schnappschuss wohl kaum als Beweis eines paartherapiewürdigen Streits lesen, macht sich Sereina Steinemann zunutze.

Die «Enzyklopädie der unbeachteten Tatsachen», der aufwändigste Teil ihrer Diplomarbeit, zeigt die suggestive Wirkung von Textteilen, welche mit Bildern verknüpft werden, geradezu exemplarisch auf. Ausgehend von vorgefundenen Bildern und Kolumnentiteln eines alten Bertelsmann-Lexikons aus dem Jahr 1967 hat sie eine eigene Enzyklopädie geschaffen. Die Begriffe oben links beziehungsweise oben rechts im Lexikon, zu unserer Orientierung gedacht, werden durch das Layout häufig über Bilder gesetzt, mit denen sie nichts zu tun haben. Die Folge: Es ergeben sich völlig neue Zusammenhänge. So wird beispielsweise «Hinterkiemer» mit einer Abbildung von Hippies verbunden. Sereina isoliert die so entstehenden Paare, indem sie den Rest der Lexikonseite verschwinden lässt, ausschneidet. Dabei lesen wir Begriff und Bild automatisch zusammen, wodurch beide als etwas komplett Anderes, als das uns Bekannte, definiert werden. Es entsteht eine Parallelwelt, in der die Dinge sich anders manifestieren als in unserer Welt behauptet. Es stellt sich eine Irritation ein die beispielsweise fragen lässt: «Wer sagt eigentlich, dass Hippies nicht Hinterkiemer heissen können?» – wäre ja auch schön und vielleicht durchaus einen Vorschlag wert... Die Bild-Text-Paare werden in eine Ordnung gebracht, indem die Seiten unter verschiedene Kapitel, allesamt mit zusammengesetzten Begriffen betitelt wie etwa «Unbegrenzte Landschaften», gestellt werden und die Blätterfolgen in einen narrativen Zusammenhang gestellt werden. Es entstehen, wenn auch uneindeutige und für den Betrachter zur Interpretation offen gelassene, Geschichten, die dem rationalen Medium Lexikon eine poetische Komponente verleihen.

Mit dieser Arbeit hat Sereina Steinemann, pünktlich zum Diplom, eine Form gefunden, das Medium Buch als Sammlung in sich, die ihr entspricht. Nicht hinter allen ihren Arbeiten aus den drei Bachelor-Jahren konnte sie stehen, hat aber durch diese, sagen wir mal Versuche, den Umgang mit Bildern gelernt. Als Resultat entstand dieses, nach Angaben der Künstlerin, erste «richtige» Werk, welches das Vertrauen in das Finden eines eigenen künstlerischen Weges entscheidend gestärkt hat. Als bisheriger Höhepunkt der noch jungen Künstlerkarriere wurde gerade diese Arbeit (unter anderen) zum Ausstellungsobjekt. Die institutionelle Adelung zum Kunstwerk (natürlich war es das schon immer, aber eben, den musealen Rahmen braucht es heute weiterhin zur offiziellen Bestätigung; darüber, wie sinnvoll dies ist, kann an anderer Stelle gerne diskutiert werden) erfolgte durch die Diplomausstellung im Kunsthaus Langenthal. Das Ausstellen in öffentlichen Institutionen als wichtiger Faktor sollte dabei so früh wie möglich eingeübt werden. Dies hiess aber für Sereina auch, dass das im mehr oder weniger stillen Künstlerkämmerchen entstandene Werk der Öffentlichkeit preis gegeben wird und sich den unterschiedlichen Meinungen und Ansichten stellen muss. Umso besser daher, dass die Künstlerin selber mit der Arbeit zufrieden war, kein einfaches Unterfangen bei einem kritischen Künstlergeist, und auf die Reaktionen der Betrachter freute. Die Vernissage war denn auch ein voller Erfolg: Kaum ein Durchkommen, und dies nicht nur am reichhaltigen Buffet, und reges Diskutieren prägten den Abend.

Vielleicht, so erscheint es mir jedenfalls nach den Gesprächen mit Sereina, ist der Schlüssel zum glücklichen Künstlerdasein (nein, das ist kein Widerspruch mehr. Der notorisch unglückliche Künstler gehört ins 19. Jahrhundert...), dass man auf die Werke fokussiert, wie dies Sereina mit ihrer Enzylopädie gemacht hat, gerade dadurch, dass dieser Beruf per se undefinierter, offener ist als andere Berufe. Folglich sollte wahrscheinlich, meinen Eingangsfragen widersprechend, eigentlich immer zuerst nach dem Werk und dann nach dem Künstler gefragt werden. Aber einen Artikel lang ist es zu verzeihen, oder?

Sereina Steinemann hat acht Exemplare der «Enzyklopädie der unbeachteten Tatsachen» (523 Seiten, Hardcover) erstellt. Interessierte melden sich unter: sereina.st@bluemail.ch