Weisse Leere/weise Lehre

Galerie Urs Meile, Luzern, 3.9.2020: Die Werke des chinesischen Künstlers Qiu Shihua stellen eine weisse Leere dar. Die Ausstellung «Empty/Not-Empty» zeigt Landschaften, in denen nur scheinbar nichts zu sehen ist.

Die elf Sekunden oder drei Atemzüge lang, die wir Betrachter*innen durchschnittlich vor einem Kunstwerk verbringen, reichen nicht aus, um das eigentliche Bild zu sehen. Dazu müssten wir uns schon Zeit geben. Musse üben. Und Sehen lernen.

Galerie Urs Meile

In der Welt der Dinge und Displays sind wir umgeben von Bildern und Selbstbildnissen. Unser flüchtiger Blick begehrt beständig nach immer stärkeren Formen. Ein Begehren, das in der Begegnung mit den Werken von Qiu Shihua jedoch ins Leere läuft: Helle Leinwände, die mit den subtilsten Nuancen von Weiss bemalt worden sind. Doch handelt es sich weder um leere Felder noch um abstrakte Gemälde, sondern um Landschaftsmalerei. Qius Bilder wirken dabei flach und fade, so dass auch von blandscapes die Rede sein könnte. Doch erzeugt der Auftrag mehrerer durchscheinender Schichten eine eigentümliche Tiefe und Dichte.

Wie beim Augenblick des Augenaufschlags, wenn alle Dinge vom starken Licht überblendet sind, erscheinen erst nach und nach, zunächst schemenhaft, dann klarer und deutlicher Dinge wie Bäume, Waldflächen, Wolken oder das Meer.

Jedoch liegen Qius Ziele «jenseits des Sichtbaren». Hinter der weissen Leere verbirgt sich die Lehre des Weisen. Und hinter dem Bild das «Nicht-Bild», das eine andere Art und Weise des Sehens bedarf.

Handeln/Nicht-Handeln

Qiu Shihua wurde 1940 in Sichuan geboren. Während der chinesischen Kulturrevolution wurde er wie viele Künstler*innen zur Erstellung von Propaganda-Kunst eingesetzt. In den 80ern studierte er in Frankreich die Impressionisten. 1989 verlor er seine Arbeit. Daraufhin führte er ein zurückgezogenes Leben und widmete sich dem Buddhismus, dem Taoismus und der Meditation. 1991 begegnete er einem taoistischen Weisen. Eine Begegnung, die für seinen singulären Stil massgebend war.

Galerie Urs Mei

So gehen bei Qiu Malen und Meditation Hand in Hand; Kunst als Meditation, die zum Sehen als Meditation einlädt.

1999 fand dann in der Kunsthalle Basel die erste monographische Ausstellung ausserhalb von China statt. Darauf folgten mehrere Gruppen- und Einzelausstellungen. So etwa 2012 im Hamburger Bahnhof in Berlin, wo auch der Dokumentarfilm mit Kurt Aeschbacher gefilmt worden ist, der nun im oberen Stock der Galerie Urs Meile zu sehen ist. Darin sagt der Direktor der Nationalgalerie Berlin, Udo Kittelmann: «Ich glaube, das Werk von Qiu Shihua ist ein Exempel dafür, dass sich Kunsttheorie sehr leicht erschöpft. Dass es bei seiner Malerei auf unsere Wahrnehmung ankommt. Und das ist das tollste, was man von einem Kunstwerk erwarten kann.»

«Ich glaube, das Werk von Qiu Shihua ist ein Exempel dafür, dass sich Kunsttheorie sehr leicht erschöpft.»

Udo Kittelmann

Eine Lobeshymne über die Kunst, aber ein Verdikt für die Kritik. Denn wenn die Sprache versagt, was vermag dann noch die Kritik? Dabei muss die Kritik genau an diesem Punkt ansetzen.

Form/Nicht-Form

Die Landschaftsmalerei nimmt in der chinesischen Kunstgeschichte einen zentralen Platz ein. Etwa die so genannte «Berg-Wasser-Malerei» (chin. Shan shui), die stark vom Taoismus beeinflusst wurde. Unermessliche Räume, im Nebel verschwindende Bergsilhouetten, impressionistisch gezeichnete Naturphänomene, angesichts dessen dem Menschen seine Kleinheit und Flüchtigkeit bewusst wird.

Galerie Urs Meile

Die Natur erscheint als endloses Wechselspiel verschiedener, einander entgegengesetzter, jedoch zusammenwirkender Faktoren wie Licht und Schatten, Fülle und Leere, Natur und Mensch. Pole einer intensiven Spannung, in der Energie, das Qi fliesst.

«In this blankness there is resonance, there is qi. The viewer cannot see it but feel it.»

Qiu Shihua

In der taoistischen Gründungsschrift, dem «Tao Te Ching», das dem Weisen Lao Tzu zugeschrieben wird, heisst es: «Das grosse Bild hat keine Form».

Qius Werk gehört dieser Tradition an, wenn er sagt: «The viewer sees nothing in the painting but a blank canvas. But in this blankness there is resonance, there is qi. The viewer cannot see it but feel it.»

Dies bedarf vor allem der Zeit und der Übung. Geben wir uns also Zeit. Mehr als die 11 Sekunden.

Qiu Shihua: Empty / Not Empty
Bis SA 31. Oktober
Galerie Urs Meile, Luzern