Vom Klang umzingelt

Das zentrale Werk der diesjährigen Lucerne Festival Academy, «Répons» von Pierre Boulez, ist nicht bloss ein Musikstück: Es ist ein Spektakel, eine Choreografie fürs Ohr.

Alles dreht sich, man weiss nicht, wo einem der Kopf steht. Bereitwillig lässt man sich tragen, in diese Richtung, in die andere. Das Gefühl erinnert vage an die wilden Teenager-Jahre und damals stattgefundene Experimente mit Rauschmitteln und Nervengift. Mit dem Unterschied, dass es sich hier und heute nicht um Einbildung handelt: Die Welt dreht sich tatsächlich, zumindest akustisch. Der Klang fällt einen von vorn an, steigt über die Köpfe des Publikums hinweg, rast darauf von links nach rechts hinter den Sitzreihen durch, um gleich darauf wieder von der Bühne her zu erklingen. «Répons» von Pierre Boulez hört man sich nicht nur an, man befindet sich mitten drin.

U m f a s s e n d e   K l a n g - I n s t a l l a t i o n Möglich macht dies zum Einen die räumliche Aufteilung der Musiker und Musikerinnen im ganzen Luzerner Saal des KKL, zum Anderen die Ergänzung der herkömmlichen Instrumente durch Live-Elektronik und im Konzertsaal verteilte Lautsprecher zur Wiedergabe.

Der Komponist Pierre Boulez (Bild links) hält in seiner Partitur nicht nur fest, wann welche Töne wie laut gespielt werden sollen, er bestimmt die ganze Einrichtung des Konzertsaals inklusive der Beleuchtung, um sein Konzept zu realisieren: Mitten im Raum steht die Bühne mit den Orchestermusikern und dem Dirigierpult, rundherum verteilt befinden sich die Sitzplätze für das Publikum. Um das Publikum herum, im ganzen Raum verteilt, spielen die Solisten und Solistinnen auf kleinen Podesten: Jennifer Torrence  (Marimbaphon), Bleuenn Le Friec (Harfe), Nick Tolle (Zimbal), Bill Solomon (Perkussion), Oliver Hagen (brillant!) und Jonas Olsson an den zwei Flügeln. Zu dieser allein schon ziemlich spektakulären Situation kommt noch die Live-Elektronik hinzu: Diese besteht aus Echtzeit-Computern, die Klänge der Solisten live loopen oder verfremden und diese über Lautsprecheranlagen im Raum verteilen.

K o m p l e x e s   P i o n i e r w e r k Dabei handelt es sich nicht um das bisschen Technik, das wir von Rock-Konzerten kennen: Die Computer sind von Spezialisten besetzt, die, genau wie auch die Musiker, eine Partitur vor sich haben und auf die Einsätze des Dirigenten warten. Pierre Boulez, und das ist  ein sehr interessanter Aspekt an «Répons», behandelt die Elektronik nicht als diskretes Hilfsmittel, sondern wie ein vollwertiges Instrument. Dieses Instrument kommt dort zum Einsatz, wo die menschlichen Möglichkeiten nicht mehr ausreichen, die Klangvorstellungen des Komponisten zu verwirklichen. Das tönt nun alles ebenso kompliziert wie avantgardistisch. Umso erstaunlicher, dass das Werk seine Uraufführung vor gut dreissig Jahren erlebte, als die meisten MusikerInnen der Festival Academy noch nicht einmal auf der Welt waren. «Répons» zählt zu den Pionierwerken der Neuen Musik mit Live-Elektronik und ist das Kernstück der diesjährigen Festival Academy. Da der Aufwand dermassen gross ist und entsprechendes Know-how erfordert, wurde das Werk noch nie von einem anderen Dirigenten als von Pierre Boulez, dem Komponisten selbst, aufgeführt.

S p e k t a k e l   f ü r   d i e   S i n n e Soweit wohnt das Publikum an diesem Abend einer aussergewöhnlichen und seltenen Situation bei. Und als es nach der Pause von Pierre Boulez aufgefordert wird, nun die Sitze zu wechseln und in einem anderen Teil des Raumes Platz zu nehmen, kann es das Werk in seiner Eigenheit gleich ein zweites Mal erfahren: Da der Raum eine fest einkalkulierte Grösse ist, klingt das Stück von jedem Platz aus anders. Die Solisten sind unterschiedlich weit weg, andere Instrumentengruppen dominieren je nach Ort, die elektronischen Klänge rauschen nun hinten herum, anstatt wie beim ersten Mal von vorne zu kommen. Nun ja – Rasende Raumklänge, verstreute Solisten, die ganze komplizierte Elektronik ... Klingt diese Musik denn für die Konzertbesucher nicht unnahbar, schwer verständlich und vor allem ziemlich schräg? Doch, zweifellos. Aber verstehen wir denn eine Beethoven-Sinfonie oder eine Bach-Fuge, im Grunde genauso komplizierte Werke, besser? Sind wir überhaupt bestrebt, die Beethoven-Sinfonie im Konzert zu verstehen? Möglicherweise geht es gar nicht, wie so oft behauptet, ums «Verstehen». Sondern darum, sich auf eine Musik einzulassen. Dies mag zugegebenermassen  je nach Musikstil unterschiedlich leicht sein. Wem es gestern mit Pierre Boulez’ «Répons» gelungen ist, wurde mit einem unvergleichlichen Hörerlebnis belohnt, das sich zusammen mit dem Beleuchtungskonzept und der bewegten Raumerfahrung zu einem umfassenden Spektakel für die Sinne formte.

Das Lucerne Festival dauert noch bis 19. September.