Vaterphantasien

Viscosistadt, 23.10.2016: Ein Riesenhit des Musiktheaters findet in eine aufgelassene Fabrik. Verdis «Rigoletto» wird in der Emmenbrücker «Viscosi» gespielt. Die Kombination von tiefenpsychologisch abgründiger Inszenierung, versiffter Räumlichkeit, degenerierten Kostümen und raffiniert eingesetzter Videotechnik schafft einen sehr dichten, berührenden und anregenden Theaterabend. Auge erschlägt Ohr: Das eigentliche Musikdrama bleibt auf der Strecke.

(Bilder: Ingo Höhn)

Am Ende fasern die Interpretationsmöglichkeiten auseinander. Die Ebenen des realen Theatergeschehens, der Videoproduktion und des Stückverlaufs, wie wir ihn aus Verdis «Rigoletto» kennen, lösen sich voneinander. Das weitere Schicksal von Gilda, der innig geliebten, eben erwachsen und geschlechtsreif gewordenen Tochter des Hofnarren Rigoletto, bleibt ungewiss. Wurde Gilda erstochen und in einen Sack gesteckt, auf Befehl des eigenen Vaters? So kennen wir es aus der Operngeschichte. Ist es bloss der paranoide Hofnarr selbst, der sich das so vorstellt, weil er sich keinen Reim darauf machen kann, wo denn seine erst noch so kindliche Tochter geblieben ist? Das suggeriert das Spiel, wie wir es live vor uns sehen. Oder ist Gilda einfach von zuhause fortgelaufen? In die Nachbarstadt, wie vom Vater gewünscht? Oder irgendwohin in ein selbstbestimmtes Leben mit allerlei bösen Onkels, lockeren Kolleginnen und luschen Kumpels, wie es das Video zeigt? Dass wir die gesamte Handlung als einen paranoiden Wahn Rigolettos zu verstehen haben, und dass das Verhältnis des eifersüchtigen Vaters zu seiner erblühten Tochter ein ziemlich anrüchiges ist, darauf gibt Regisseur Marco Štorman von Anfang an zahlreiche Hinweise. Was ist denn nun der Konflikt Rigolettos und damit, wenn wir unterstellen, dass Theater immer auf das Allgemeinmenschliche zielt, das Problem von Vätern mit hochpubertierenden Töchtern überhaupt? Es ist der Schmerz, das Unverständnis und die Trauer im Moment des Loslassens. Es ist die Erkenntnis über die erblühte sexuelle Attraktivität der Tochter, die selbstverständlich strikte geleugnet und verdrängt werden muss. In zivilisatorisch einigermassen geordneten Bahnen äussert sich das gerne mal in der Ablehnung ganzer Scharen von Liebhabern und potenziellen Schwiegersöhnen, in anderen in Ehrenmorden und Kinderhochzeiten. Von Schlimmerem ist zu schweigen. Genau an dieser Stelle steht der Rigoletto und steht die Gilda in Marco Štormans Inszenierung. Anders gesagt: Der Regisseur liest genau diesen verborgenen Konflikt aus der Oper heraus.

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Da spielt es denn gar keine Rolle mehr, ob die weiteren Figuren real existieren oder blosse Imaginationen des Vaters sind bis hin zur Identität des Vaters mit dem Verführer als dessen gehasstes alter ego. Die Regie rührt damit an eines der grössten verbliebenen Tabus, an dasjenige, das noch jeden Tag tiefer in die Unsäglichkeitszone gestossen wird, weil es ja sonst verwechselt werden könnte mit demjenigen früheren Tabu, das seit gut einem Jahrzehnt tabuartig gar nicht mehr existieren darf, und bei dessen Nennung reflexartig Sätze fallen müssen wie «Das spielt doch keine Rolle», «Das ist mir doch gleich» oder «Und das ist auch gut so». Es sei hier nicht einmal benannt und bleibe also das Tabu aller Tabus.   Umrisse eines neuen Luzerner Ensembles Gespielt und gesungen wird dieses tiefenpsychologisch ausgedeutete und bebilderte Drama von einem für das Luzerner Theater neuen und hervorragenden Team. Claudio Otelli als Rigoletto, mit intensivem Spiel, getrieben und treibend wie ein Wozzeck oder wie Peter Lorres Mörderfigur in «M - eine Stadt sucht einen Mörder», ist auch stimmlich die überragende Figur des Abends: Er klingt mal lyrisch, mal gequält, mal brutal, wütend, herrschsüchtig oder zynisch. Otelli trägt den Abend. Warnung an Interessierte: In den letzten beiden Vorstellungen der Aufführungsserie fehlt Otelli, und es feiern mit anderem, altbekanntem Hauptdarsteller das Grimassentheater und der Leichenduft der «Aera Mentha» noch einmal Auferstehung. Magdalena Risberg singt die Tochter Gilda glockenhell, rein und schön, aber noch etwas zurückhaltend blass, was mit der Rollenzeichnung zu tun haben mag, die ihr Selbstbestimmtheit ja eben (noch) nicht gönnt. Diego Silva als Herzog von Mantua singt mit so zuckersüssem lyrischem Tenor, dass man ob so viel Süssholz nachgerade Verständnis für Rigolettos Misstrauen aufbringt. Der Mörder Sparafucile klingt dunkel und auf sehr ungemütliche Weise sanft. Bis hin in kleinere Rollen ist diese Produktion hervorragend besetzt. Damit wird eine glänzende Visitenkarte für das künftige Musiktheater in Luzern abgegeben, denn die Mehrzahl der mit dieser Produktion in Luzern debütierenden Sängerinnen und Sänger wurde als festes Mitglied ans Ensemble verpflichtet. Dass auch der Regisseur Marco Štorman dem Haus als «Hausregisseur für Musiktheater» verbunden bleiben soll, ist zusätzlich erfreulich. Mehrwert durch Licht und Raum Für die Videos zeichnet Bernd Zander verantwortlich. Er setzt das Medium überaus überzeugend ein, ganz und gar nicht aufdringlich, modisch-beliebig, redundant oder überflüssig nebenherlaufend. Dabei wird die Videotechnik in unterschiedlicher Art und Funktion verwendet. Teilweise wird das bewegte Geschehen live abgefilmt und auf grosse Leinwände projiziert. Teilweise werden dem Zuschauer bei statischer Kamera auf Bildschirmen Szenen nähergebracht, die er sonst wegen der komplizierten räumlichen Verhältnisse nicht sehen könnte. Und teilweise emanzipiert sich das Video vom Geschehen und zeigt eine zweite Realität. Es geht damit im Video um Deutlichmachen, Ergänzen, Erklären und Hinterfragen. Nun wird ja bekanntlich diese Produktion nicht auf einer herkömmlichen «Bühne» gespielt, sondern auf verschiedenen Etagen, Treppen, Balkonen und Galerien der sogenannten «Pilothalle» der ehemaligen «Viscosi» in Emmenbrücke. Das Orchester sitzt im Erdgeschoss wie in einem tiefen Orchestergraben, die Zuschauer auf mehreren Balkonen dem Geschehen gegenüber. Der Raum ist vollgepfropft mit chemischen und anderen Gerätschaften, mit Hebevorrichtungen, Falltüren, Metallschränken und elektronischen Anzeigen. Hier turnen sich die Darstellerinnen und Darsteller rauf und runter, rein und raus, durch und drumherum. Was das alles mit «Rigoletto» oder dieser spezifischen Inszenierung zu tun hat? Rein gar nichts. Es gibt keinen Grund, für genau diese Produktion nach Emmenbrücke auszuweichen in genau diesen Raum. Zwingend ist da nichts. Aber: Der gesamte Abend gerät aus vielerlei Gründen derart atmosphärisch dicht, überzeugend und berührend, dass sich die Frage gar nicht mehr stellt.

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Das hat jetzt halt dort stattgefunden, das war einmalig, das rechtfertigt sich durch sein Gelingen. Spektakel ohne Musikdrama Das erste Bild des «melodramma» übrigens wird als eine Art Prolog im Erdgeschoss der Fabrikhalle dargeboten, während die Zuhörer sehr dicht bei Orchester, Protagonisten und Chor stehen. Man nimmt wahr, dass da oder dort gerade etwas passiert, das als Live-Aufnahme auf Leinwände projiziert wird. Alles Geschehen entwickelt sich gewissermassen aus dem Zuschauerraum selber. Das wirkt sehr dicht, wenn etwa der Chor lautstark an einem vorbeihopst oder eine Hauptfigur um einen herumschleicht. Man ist nah dran in diesem ersten Teil, nah dran an der Geschichte, die erzählt werden soll, aber gar nicht nah dran an Verdis Werk und seiner diffizilen Musiktheaterdramaturgie. Das wäre ja ein einziger grosser Atembogen, ein einziger Schwung von Ballmusik und frivoler Festgesellschaft hin zu furchtbarem Ernst, zu Fluch, menschlichen Abgründen und Drama. Und genau das bleibt völlig aussen vor. Verdis eigentliche Qualitäten werden verschenkt, indem die Handlung verzettelt und die Musik zur Nummernrevue reduziert wird. Zwangsläufig notabene: Das geschlossene Drama, die subtile Architektur des Komponisten kann sich so nicht mitteilen. Leider hat man auch später, wenn man dann nach langen und mühsamen Treppensteigereien endlich sitzt, Mühe, in den Fluss der Musik hineinzufinden. Orchester und Sänger finden zu wenig zusammen, letztere tauchen immer wieder an zu unterschiedlichen Stellen auf, und insgesamt passiert mit Handlung und Video zu viel, als dass man noch auf Details hören könnte. Man schaut dahin und dorthin, fokussiert mal nah, mal fern. Dass das Auge das Ohr jederzeit wegdrücken kann, ist ja nun breitestens bekannt. So geschieht es. Was sich also durch sein Gelingen rechtfertigt, ist ein intelligentes und stimmig gemachtes Spektakel, zu dem auch noch die bekannten Hits von Verdi gespielt werden. Aus dem Orchester ist zu hören, dass dieses gerne und einvernehmlich mit dem Dirigenten Stefan Klingele zusammengearbeitet habe. An der Aufführung zu hören waren einige originelle, sensible Tempi und sängerfreundliche Phrasierungen und Rubati. Mehr über die Orchesterleistung möchte niemand dazu sagen, der die Aufführung auf dem obersten Balkon mitbekommen hat. Da sitzt denn das Orchester in seinem tiefen Loch, irgendein Klangbrei schallt hoch, aber von Transparenz und Ausgewogenheit kann nicht die Rede sein. Noch die wild abstürzenden Posaunen zu den Schlussakkorden waren ganz einfach unhörbar.    

Luzerner Theater: Rigoletto. Melodramma von Giuseppe Verdi In der «Pilothalle» der Viscosi Emmenbrücke Weitere 14 Aufführungen bis 2. Dezember 2016.