Über die Ermüdung und Zuversicht in der Kultur

Die Autorin Mariann Bühler über persönliche Erfahrungen, wie mit ihr als Kulturschaffende in der Pandemie umgegangen wird. Dass Kultur als nicht systemrelevant betitelt wurde, ist dabei nur eine von vielen «Keulen in die Fresse».

Text: Mariann Bühler
Illustration: Cilgia Zangger

Noch so einen Winter, sagt die Freundin, noch so einen Winter überlebe ich nicht. Die Frau, die an unserem Abteil vorbeigeht, trägt keine Maske. Wir schauen ihr nach, ich ein bisschen länger.

Überleben schon, sagt die Freundin, als sich die Frau weiter vorne setzt, aber – ich will so nicht leben. Ich brauche das, die Lesungen, die Menschen, den Austausch.

Der Zug setzt sich in Bewegung, das Gefühl von drohendem Stillstand werden wir nicht los. Wir warten ab, einen nicht definierten Schwellenwert, einen Abstimmungssonntag, vor dem sich niemand unbeliebt machen will und nach dem sich die statistische Erleichterung mit den Ansteckungskurven neutralisiert. Wir harren aus, mit einem löchrigen (Kosten-)Dach auf der Zuversicht.

Die Lesung, von der wir an diesem Abend kommen, hat im dritten Anlauf stattgefunden. Neben der Autorin wohnt in mir auch eine Veranstalterin und beide sind dankbar für den langen Atem derjenigen, die diesen Abend dreimal geplant haben. Zweimal Termine gesucht, die allen Beteiligten passen, zweimal abgesagt, um ein drittes Mal einen Termin zu finden, Werbung zu machen, Vorbereitungen zu treffen im Wissen, dass eine dritte Absage wahrscheinlich ist. In den spärlichen Anmeldungen manifestiert sich eine diffuse, vielzitierte Kulturmüdigkeit.

Die Pandemie bedeutet für manche Kulturschaffende ein monatelanges faktisches Berufsverbot und hat einigen die berufliche Existenz genommen. Manche konnten und können die Zwangspause kreativ nutzen, für viele sind Unsicherheiten, fehlende Planbarkeit und damit verbundene bürokratische Begleiterscheinungen mehr als nur ein Dämpfer. Diese berufliche Situation wirkt sich auf die (psychische) Gesundheit aus. Kulturschaffende sind dabei viele unter vielen mehr.

Eine Studie meldet, dass 75 Prozent der Schweizer Musiker:innen an Depressionen leiden. Die Krankschreibungen in meinem näheren und weiteren Umfeld sind gefühlt mehr und länger, ihr Ende weniger absehbar. Noch zahlreicher sind Aussagen, die nach Notbremse klingen: etwas abgegeben zu haben oder gar nicht mehr zu machen, ein vielversprechendes, fast finanziertes Projekt zu streichen, bevor es richtig angefangen hat. Und – das merke ich bei mir selbst – das, was stattfindet, nimmt auf emotionaler Sparflamme seinen Lauf, wird schlimmstenfalls absolviert.

 

Und trotzdem bleibt der fahle Nachgeschmack: Kultur sei nicht systemrelevant. Diese Botschaft, die in der Kulturförderung per se mitschwingt, ist explizit geworden.

 

Schwindende Kulturberufe in der Pandemie
Seit Anfang 2021 gibt es in den Kantonen Basel-Stadt und Zürich eine «Existenzsicherung», ein Taggeld für professionelle Kulturschaffende – jedenfalls für die, die sich nicht bereits einen anderen Job gesucht haben, aus Angst, dass es plötzlich doch nicht mehr reicht für Miete, Krankenkasse und Einkäufe. Von einer Opernsängerin, die Pfarrerin geworden ist, höre ich im Radio. Krisensicherer Job, systemrelevant. Fünf Prozent weniger Kulturschaffende gibt es 2021 in der Schweiz, heisst es in der gleichen Sendung. Sehr viel mehr sind es aber, die die Kultur noch nicht ganz aus ihrer Berufsbezeichnung gestrichen haben, die sich stattdessen «etwas Zweites» gesucht haben, das nun zwar ihre Existenz sichert, aber der Kultur Zeit und Raum nimmt. Ich gehöre zu denen, die das Sowohl-als-auch versuchen. Neben der Erleichterung, während einer Pandemie eine flexible Teilzeitanstellung zu finden und meinen Lohn nicht in Anträgen bei zig Stiftungen und der öffentlichen Hand beschaffen zu müssen, bleibt das schlechte Gewissen, aufgegeben zu haben. Das Selbstverständnis, das sowieso nicht selbstverständlich ist, bröckelt.

Die Gelder fliessen ja. Auch für die Freischaffenden, nicht selbstständig Gemeldeten gibt es einen Topf. Das, was da rauskommt, ist prekär. Die Gelder fliessen ja, kann man sagen und dankbar sein für einen funktionierenden Staat, der sich auch um nicht systemrelevante Branchen kümmert. Und trotzdem bleibt der fahle Nachgeschmack: Kultur sei nicht systemrelevant. Diese Botschaft, die in der Kulturförderung per se mitschwingt, ist explizit geworden. Eine Keule in die Fresse ist das, sagt eine Freundin am Telefon.

Es ist nicht so, als würden die Kultur und damit Kulturschaffende erst seit der Pandemie in Frage gestellt, im Gegenteil. Jedes Gesuch ist eine Rechtfertigung (da kann der Heini im CAS Kulturmanagement noch lange sagen, wir müssten diese als Offerten stellen). Das In-Frage-Stellen ist eine Aufgabe der Kultur, und sich selbst in Frage zu stellen, ist eine Fähigkeit, die ich bei Kulturschaffenden nicht missen möchte.

Im Zusammenhang mit manchen Arbeitsverhältnissen ist von «Work-Life-Balance» die Rede, da wird scharf zwischen Arbeit und einem Leben getrennt, das nichts mit Arbeit zu tun hat (ob das sinnvoll ist, ist eine andere Frage). Im Gegensatz dazu wird in der Kulturarbeit erwartet, dass sich Arbeit und Leben möglichst stark überlagern, dass die Identifikation mit der Arbeit möglichst gross ist. Das öffnet der leidigen Argumentation: Wenn du es doch gern machst, wenn es dir so wichtig ist, warum verlangst du dann Geld dafür?, Tür und Tor. Eine Argumentation, die im Zusammenhang mit anderen Berufen völlig absurd anmutet: Selbstverständlich rechnet die Ärztin per fünf Minuten ab, und wenn der Auftrag bei der Malerin einen Tag länger dauert, dann taucht dieser Tag als Betrag auf der Rechnung auf und wird bezahlt. Ich kenne Menschen, die setzen sich unermüdlich für eine angemessene Entlohnung in der Kultur ein und ich arbeite daran, das auch zu tun – um dann selbst wieder in die Falle zu tappen, mir selbst mit dieser hanebüchenen Argumentation zu kommen und viele Tage Arbeit nur in den gefrässigen Eigenleistungen einer Abrechnung unterzubringen.

 

Was, wenn die Batterien leer sind?
Wir haben begonnen, über psychische Gesundheit zu sprechen. Das hat sich ein Stück weit normalisiert, die Pandemie hat diesen Prozess vielleicht sogar beschleunigt, aber längst nicht genug. Bei einem Bier mit Freund:innen sagen zu können: Ich bin jetzt übrigens in Therapie, das macht einen Unterschied. Aber wie oft raunen wir: Burnout, nicken verständnisvoll und unterdrücken einen Gedanken, für den wir uns in aller Stille ein bisschen schämen, weil neoliberal ein zu passendes Prädikat wäre. Die Mechanismen, die den Verlust der psychischen Gesundheit beschleunigen, sind zahlreich und treten in Rudeln auf: von prekären Arbeitsbedingungen über mangelnde Zukunftsperspektiven bis hin zu Machtmissbrauch. Es braucht gesellschaftliche Anstrengungen, ein Umdenken und vor allem eine Veränderung der Strukturen – und es tut sich auch was. Es gibt Institutionen, da versuchen Vorstände und Geschäftsleitungen genauer hinzusehen und Veränderungen umzusetzen. Angefangen bei der einfachen Nachfrage: Wie geht es dir, kannst du noch?

 

Es braucht gesellschaftliche Anstrengungen, ein Umdenken und vor allem eine Veränderung der Strukturen – und es tut sich auch was.

 

Das Zunichtemachen von Plänen ist zermürbend. Das Durchführen von Veranstaltungen im dritten Anlauf ebenso. Dazu kommt, dass die Besucher:innen aller Sparten (abgesehen von Clubs) weniger geworden sind. Ist es die Angst vor dem Virus? Die Konkurrenz von Streamingdiensten? Hat sich das Stubenhocker:innentum ausgebreitet? Ich habe noch keine abschliessende, einleuchtende Erklärung gehört, was das Rechtfertigen dieser tieferen Zahlen bei Geldgeber:innen nicht einfach machen wird.

Das Ertragen der wiederkehrenden Enttäuschung – das braucht Kraft. Und woher nehmen, wenn nichts von dem geschieht, was sonst die Batterien aufgeladen hat? Ich sage mir selbst oft genug: Wenn ich es gern mache, kommt viel zurück. «Viel» ist in diesem Kontext nie Geld, taucht nicht mal in den «Eigenleistungen» einer Abrechnung auf. «Viel» ist eine flüchtige Währung, ist Austausch, Rückmeldungen, Inspiration, Emotionen. Treibstoff zum Weitermachen. Aber was, wenn das misslingt? Wenn kein Echoraum entsteht? Wenn Zeit und Fähigkeiten nicht reichen, weil eine Pandemie ins Spiel kommt und zig weitere Faktoren mit sich zieht und am Ende ein zu kleines Honorar bleibt?

 

Zuversicht, dass die Kultur nie warten wird
Neben der Angst ist da auch immer die Scham: nicht zu genügen, etwas nicht zu schaffen. Wenn ich einen Auftrag annehme und absage, dann ist da die Befürchtung, dass in Zukunft keine Anfrage mehr kommt.

Nach tatsächlich stattgefundenen Lesungen kommt die Zuversicht zurück, dass aus der immer wieder monatelang unterbrochenen Arbeit doch noch etwas wird. Ich will weiterschreiben, am liebsten gleich jetzt, sofort.

Bevor ich die Veranstaltung verlasse, hat der Journalist eines Regionalblatts noch eine Frage. Er will wissen, warum ich den Ansporn der hier gefeierten Auszeichnung nicht genutzt habe, um den geplanten Roman fertigzuschreiben. Ich versuche zu erklären, dass ich dem Schreiben neben Brotjobs Platz freihalten muss und dass ich darum mehr Zeit brauche. Er versteht mich nicht, unterbricht mich: Dann wollen Sie also gar nicht, dass der Roman erscheint?

 

Nach tatsächlich stattgefundenen Lesungen kommt die Zuversicht zurück, dass aus der immer wieder monatelang unterbrochenen Arbeit doch noch etwas wird. Ich will weiterschreiben, am liebsten gleich jetzt, sofort.

 

Ich hätte noch viel zu sagen, aber die Zeit drängt, der Zug fährt bald und die Fahrzeit darin muss ich nutzen. Ich habe diesen Artikel hier im 041 – Das Kulturmagazin zugesagt. Und zugesagt ist zugesagt. Ich sitze auf der Rückfahrt von Lesungen, die im dritten Anlauf stattgefunden haben, dran, wenn die Freundin in Olten umgestiegen ist, zwischen Nachtessen und Abwasch, auf dem Weg zu einer Probe, unterbrochen von einem Telefon wegen einer Abrechnung für ein Projekt, bei dem ich eingesprungen bin, weil eine andere Person aus gesundheitlichen Gründen ausfiel. Und über Mittag, mit dem Sandwich in der Hand, im Büro an der Uni, von wo jeden Monat ein fester Betrag reinkommt, der mein Konto in Richtung Vermieter und Krankenkasse und Grossverteilerin wieder verlässt. Das Manuskript wartet.

Und auch wenn sich immer wieder die Frage stellt: Warum machen wir das eigentlich?, und: Wie sollen wir noch einen solchen Winter überstehen?, kommt immer wieder die Antwort: Weil es wichtig ist, weil Veränderungen über die Kultur hinaus möglich sind. Weil das Fragenstellen und In-Frage-Stellen systemrelevant sind. Die Kultur wartet nicht.


Text: Mariann Bühler
Illustration: Cilgia Zangger

Dieser Beitrag erschien in 041 – Das Kulturmagazin im Januar 01/2021.

Wir brauchen dich!
Dieser Beitrag ist kostenlos. Doch Journalismus kostet und wir wollen auch in Zukunft ausgewählte Inhalte für alle zugänglich machen und online veröffentlichen. Dafür benötigen wir die Unterstützung von unseren Leser:innen, die mit ihrem Abo unser Schaffen weiterhin ermöglichen. Jedes Einzelne ist wertvoll – für das Magazin, unsere Autor:innen, unser Team und unsere Leser:innen. Wir freuen uns, dich zu unseren Abonnent:innen zählen zu dürfen. Vielen Dank.

Abo im Online Shop bestellen
Aktuelle Magazin-Ausgabe entdecken