Über das Böse im Menschen

UG des Luzerner Theaters, 17.01.2015: Der Salon der Schauergeschichten im UG geht in die zweite Runde. Marc Wortel inszeniert «Strange Case(s) of Dr. Jekyll and Mr. Hyde» mit viel Brutalität und ohne Aussicht auf Hoffnung.
 

Der 34-jährige Regisseur Marc Wortel hat wahrlich keine einfache Aufgabe: Drei Monologe zur menschlichen Doppelnatur, angeregt von Robert Stevensons «Dr. Jekyll and Mr. Hyde», zu inszenieren bedarf einiger Überlegungen. Er verzichtet dabei auf seine ursprüngliche Idee, die drei Monologe der ehemaligen Hausautorinnen des Luzerner Theaters zu verweben und inszenierte die «Strange Cases» stattdessen als drei aufeinanderfolgende Kurzschauspiele, in denen er die Schattenseiten der menschlichen Seele nach aussen zu stülpen versucht. Die Bühne (Viola Valsesia) – sie bleibt die Arena der Selbstfindung, in der zur Saisoneröffnung Frankenstein hinter goldigen Stäben sein Monster bereute – verschwindet nach einem eröffnenden Gong in der Dunkelheit. Einzig ein UV-Licht schimmert an der Decke und macht die Münder der sonst beinahe unsichtbaren Protagonisten in Neonfarben leuchten. «Du behorchst mein Herz! (Ich bin das letzte fiebrige Gestirn)» von Ivna Žic ist ein Monolog einer dreigeteilten Persönlichkeit, die sich im ständigen Dialog mit sich selbst aufreibt. Wortel inszeniert diesen Dialog in der Dunkelheit mit einem Gespür für das Bild. Die drei Münder, die vor sich hin sprechen, nach Luft schnappen, schnarchen, so widerstrebende Persönlichkeiten abbilden und dennoch ineinander verschmelzen – die Neonfarben vermischen sich in den drei Gesichtern – sind eine Freude für das Auge. Sie zeigen aber auch, wie schwierig es ist, einem Monolog in fast gänzlicher Dunkelheit zu folgen. Es bleibt das aufreibende Bild der Verschmelzung und der Gang auf das Gleis; der heranbrausende Zug weckt die Zuschauer jäh aus ihrer kontemplativen Anschauung, in die sie an diesem Abend nicht mehr zurückkommen werden. Nach einer gründlichen Desinfizierung des Stuhls, auf dem eben noch die Selbstmörderin sass, wird es noch unbequemer. «Milchdiebin» heisst der Monolog von Martina Clavadetscher, der sich um eine Kindsmörderin dreht. Der Milchdieb, das kleine Kind, das der komplett überforderten Mutter (Dagmar Bock) die Milch klaut, wird als realistische, nackte Kinderpuppe auf die Bühne gesetzt, die sich mithilfe von vier Stäben von zwei dunklen Gestalten auch unangenehm realistisch bewegt. Gut und Böse streiten sich in der Mutter, die zu ihrem Kind keine Beziehung aufbauen kann, oder besser: nur eine desaströse; sie sieht das Kind als Einbrecher in ihr Leben, als Dieb ihrer Milch und ihrer Zeit – als Bestie, die zu allem Übel bedingungslos liebt. Die Mutter quält das Kind, drückt ihm die Fingernägel in den Kopf, lässt es beinahe ersticken und trägt es dann wieder liebevoll, aber ungläubig in den Armen. Dem Zuschauer läuft der Schauer kalt über den Rücken, so nah geht die Darstellung des hilflosen kleinen Kindes und der überzeugend spielenden Mutter zusammen mit der unwiederbringlichen Tatsache, dass das Kind dem Tod geweiht ist und das Böse in der Mutter Oberhand gewinnen wird: «Als ich am Morgen die Augen öffnete Immer war die Bestie noch da! Es war noch da. Es liebte mich und blieb. Also liebte ich es zurück und liess es bleiben» – draussen im Garten, im strömenden Regen. Erst die Gehilfin räumt das kleine Geschöpf zur Seite, um die Bühne für den letzten Monolog herzurichten. Bühne frei für «Ich war Diener im Hause Hobbs» von Verena Rossbacher, dem eingängigsten Monolog des Abends, da er über die Innenperspektive hinaus geht und eine Geschichte erzählt. Denn bei Rossbacher ist es der Butler Josef (Juliane Lang), der durch seine tägliche Arbeit die Mehrgesichtigkeit seiner Hausherren (Clemens-Maria Riegler und Dagmar Bock) kennenlernt, die Risse unter der glatten, vor Erfolg triefenden Oberfläche zu sehen bekommt und sie dann auch grossartig einstürzen lässt – der Hausherr erschiesst zuerst sich selber und dann seine Frau. Josef bemängelt dabei, dass er nicht einmal in diesem Moment fähig ist, logisch zu denken; am Tod des Hausherren und der Hausherrin ändert das aber nichts. In dieser letzten Geschichte wird dem Trash wieder Platz eingeräumt, der programmatisch für die Trilogie der Trivialschauergeschichten ist und der bei der Frankenstein-Inszenierung so viel Platz eingenommen hat. Es ist eine Freude, den drei Schauspielern zuzuschauen, wie sie ohne Rücksicht auf blaue Flecken agieren. Die Brutalität, die den ersten beiden Stücken noch inne wohnte, verliert sich und auch die Atmosphäre des kalten Schauers verschwindet zunehmend: Denn obwohl auch hier ein existenzielles Problem verhandelt wird, geschieht das an Personen, mit denen sich die wenigsten identifizieren dürften – es trete vor, wer über einen Butler verfüge, Unmengen an Geld verdiene und Familie besitze! – und mit einem absurden Schluss, der zwar ebenso wie die beiden ersten Monologe mit dem Tod endet, aber im Gegensatz dazu überhaupt keinen Anspruch auf Realität zeigt. «Strange Case(s) of Dr. Jekyll and Mr. Hyde» stülpt das Böse des Menschen ohne Rücksicht auf Verluste gegen aussen und zeigt dabei keinerlei Hoffnung auf das Gute: Aus drei Monologen, welche in die Tiefe der menschlichen Seele blicken lassen, resultieren vier Tote. Das Böse, vor allem gegen sich selbst, behält beständig die Oberhand. Das Leben verkommt dabei zum Schoppenhauerschen Trauerspiel, das vor Bejahung des Lebens strotzt, aufgrund der Qualen, deren sich die Protagonisten ausgesetzt sehen, aber im vergeblichen Selbst- bzw. Kindermord endet. Da durch die Konstellation der Geschichte im letzten Monolog die Brutalität weniger explizit funktioniert und damit nicht mehr so direkt auf den Zuschauer zurückfällt, rücken die zuvor aufgeworfenen, existenziellen Fragen und damit das schwer Verdauliche etwas in die Ferne. Der Abend, er franst zum Schluss leider zugunsten einer verständlichen, konsumierbaren Handlung aus. Das ist zwar schade, entlässt die Zuschauer dafür unbeschwert in die angebrochene Samstagnacht.

Aufführungen noch bis 10. April im UG des Luzerner Theaters.