Tragödie des Hörens

Luzerner Theater, 11.09.2016: Benedikt von Peter, der neue Hausherr des Luzerner Theaters, startet seine Intendanz mit einem der sperrigsten Werke der modernen Musik: «Prometeo. Eine Tragödie des Hörens» von Luigi Nono. Als Auftakt ist das zweifelsohne ein mutiger Paukenschlag. Die Frage ist nur, von wem dieser gehört werden soll. Ist das Luzerner Publikum der Adressat, dem so klargemacht werden soll, dass es sich für die nächsten Jahre auf schwere Kost einzustellen hat, oder aber die internationale Musikjournaille und Neue-Musik-Szene, für welche Peter seine Duftmarke setzt?

(Foto: David Röthlisberger)

In den gut drei Jahrzehnten seit seiner Entstehung und Uraufführung hat sich bereits ein nur mehr schwer übersehbarer Berg von Rezeptionsmüll um den «Prometeo» angehäuft. Die Worthalde, in den Dimensionen dem ungeheuren Werk adäquat, droht, die Sicht auf dieses zu verstellen, das Lobgedröhne dessen subtiles Tönen zuzudecken. Wie findet man noch einen unbefangenen Zugang zu einem Stück, das in kürzester Zeit bereits zur Neunten Sinfonie der Linksintellektuellen, zum Heiligen Schöpfungswerk der Avantgarde stilisiert wurde? Wo einer vielleicht vermeinte, mit Worten sich und anderen einen Eingang zu schaffen, baute er doch in der Regel keine hilfreiche Leiter, sondern eine überdimensionierte, marmorne Treppe, deren Erklimmen nur auf Knien gestattet ist. Was die aufgehäufte Textmasse wortreich verschweigt und so eben doch durchblicken lässt, ist ja gerade die fundamentale Fremdheit und Unberührbarkeit des «Prometeo». Wie auch wollte man eindringen in Granit? Nicht-Inszenierung Intendanz und Dramaturgie sind sich der gewaltigen Schleppe bewusst, welche der «Prometeo» hinter sich herträgt und versuchen ganz bewusst, diese zu ignorieren, indem sie einen anderen, einen intimeren Ansatz präsentieren. Zur Plakatierung ihrer Aufführungsserie wählen sie ihrerseits Superlative. Der «Prometeo» findet in Luzern im «bisher kleinsten Raum» und der Bühnen- und Zuschauerraum des Luzerner Theaters wird «verwandelt» und zwar «in einen Globe», also in eine Raumanordnung, wie sie seinerzeit in Shakespeares eigenem Theater, dem «Globe», gegeben war. Bretter, die die Welt bedeuten. Bei Shakespeare sassen die Zuschauer auf den Rängen, und im Inneren des Ovals wurde gespielt. Bei Benedikt von Peter ist es umgekehrt: Die Sängerinnen und Musiker sind oben auf den Balkonen platziert, und im Parkett sitzen, stehen, hocken und liegen die Zuhörer. Das Spektakel sind demnach wir, die Hörenden. Irgendwie. Irgendetwas wird auch inszeniert oder angeordnet, zu dem wir irgendwie auch wieder dazugehören. Wasser wird verteilt von Statistinnen, die sich in grosser Unnatürlichkeit durch die Zuschauer bewegen, später auch Wolldecken. Wer jederzeit den Zeitgeist wehen spürt, wird möglicherweise von «Flüchtlingen» sprechen. Irgendsowas. Von «Inszenierung» kann jedenfalls nur in einem ganz unverbindlichen Sinn die Rede sein.

Foto: David Röthlisberger

Schliesslich erzählt Nono ja mit seinem Werk auch gar keine Geschichte, geschweige denn eine Handlung. Diese ist mal für mal dazu zu erfinden, wenn man sich denn dazu entschliesst. Was der Komponist vertont, ist ein Sammelsurium von Texten von der Kosmogonie, also der Weltentstehungsgeschichte des Hesiod über Hölderlin und Walter Benjamins notorischen «Engel der Geschichte» bis zu Nonos eigenem – ja! – Schwiegervater Arnold Schönberg. Insgesamt werden Mythen ausgebreitet. Der linke Philosoph und frühere venezianische Bürgermeister Massimo Cacciari hat die Fragmente zusammengestellt. Er ist damit einer der Pioniere des literarischen Copy-Paste-Verfahrens, wo kohärente Texte nach aktuellem Bedarf verstümmelt, zensiert und neu angeordnet werden. Musik im Raum Ganz im Vordergrund steht bei jeder Realisierung des «Prometeo» ohnehin die Musik. Zunächst erstaunt auch jetzt in Luzern wieder der sehr diskrete Einsatz der viel beredeten Live-Elektronik. Da wird gelegentlich ein Klang im Ausschwingen modifiziert, ein Ereignis verlängert oder als Echo wiederholt, ein Verklingen hinausgezögert. Da wandern ab und zu Töne im Raum. Die Elektronik drängt sich nicht auf, überspült nicht die Sänger und Instrumente. Was sich indessen sofort und als Primäreindruck aufdrängt, ist selbstverständlich die räumliche Disposition, die Verteilung der Interpreten und Lautsprecher rund um und inmitten der Zuhörerschaft. Das wirkt nun allerdings zunächst sehr dominant, sehr wuchtig und schlicht betörend, ganz unabhängig von allem musikalischen Gehalt. Es ist ein hochdramatisches Interagieren, ein Sich-ins-Wort-Fallen, ein vokal-instrumentales Rollenspiel, das auch daran erinnert, dass Nono den «Prometeo» ursprünglich als Oper plante. Seltsamerweise aber nutzt sich der Raumklang als erstes ab. Im Verlauf des Stückes, mit vermehrtem und konzentrierterem Eindringen in dessen spezifische Klanglichkeit, abstrahiert das Ohr mehr und mehr von der Tatsache unterschiedlich lokalisierbarer Klangquellen. Der Raumklang wird normal, vielleicht, weil er im Alltag ja den Normalfall darstellt. Musik in der Zeit Wie mit dem Raum arbeitet Nono auch ganz bewusst mit der Zeit. Es ist nicht primär die schiere Länge des «Prometeo», die den Hörer ganz eigene Erfahrungen über das Vergehen von Zeit machen lässt, es ist das Fehlen eines spürbaren Pulses über die ganze Spieldauer hinweg. Die Disposition der einzelnen Ereignisse auf der Zeitschiene scheint irrational, zumindest jedenfalls in so weitgespannten Einheiten erdacht, dass im Grunde der Eindruck der Immobilität entsteht, eines Stillstandes, der durch gelegentlich einbrechende Bewegungselemente nicht dynamisiert, sondern im Gegenteil zusätzlich bestätigt wird. Es scheint, dass der Verstand Klangereignisse, deren zeitliche Abfolge er infolge zu grosser Dehnung nicht zu fassen vermag, in der zusammenfassenden Erinnerung in einem imaginären Raum nebeneinander anordnet. So erscheint auch Nonos Raummusik in noch einmal anderem Licht. «Zum Raum wird hier die Zeit», heisst es bei Wagner. Es sind die ungeheuren Zeitdimensionen des Mythos, der immer war, immer ist und immer sein wird, die auf diese Weise erfahrbar gemacht werden.

Foto: David Röthlisberger

Musik als dialektische Synthese Man möchte im «Prometeo» zwei gegensätzliche Klangwelten wahrnehmen. Es scheint, dass der Vokal- und der Instrumentalsatz zumindest in weiten Teilen antipodisch konzipiert sind. Der grundsätzlich intervallarme Vokalsatz bevorzugt Quarten und Quinten sowohl melodisch wie akkordisch in reicher Schichtung. Das mag nun nach Solfègeübung oder auch nach Sphärenmusik klingen, gerade in Verbindung mit den Zeitdehnungen und dem meist sehr leisen Vortrag. Der weitintervallige, offene Vokalklang wird aber kontrapunktiert durch gewalttätige, scharfkantige Einwürfe der Instrumente in leeren Oktaven oder engen Clustern, undurchdringlich dichte Brocken von Klang, welche zerstörerisch quer durch die filigranen Netze der zarten Vokalisen fallen. Mit einem platten Dualismus arbeitet Nono allerdings nicht. Im Instrumentalsatz steht Ersticktes gegen Verheerendes, im Vokalsatz Geschrei gegen Geflüster. Der Horizont des Mythologischen, der gleich zu Beginn mit dem Raunen griechischer Götternamen deutlich exponiert wurde, bleibt von allen Zerklüftungen des Werkes aus immer sichtbar. Nono schafft eine Archaik ohne Exotismus. Der «Prometeo» reisst Paare von gegensätzlichen Begriffen auf, die in der Komposition selbst immer wieder in eins zu fallen scheinen, weshalb der Versuch einer adäquaten Beschreibung zwangsläufig in Aporien führt. Wo, wenn nicht in der Musik können etwa Lärm und Stille, Wohlklang und Missklang, Stillstand und Zeitfluss dasselbe sein? Nono zwingt im «Prometeo» weitere Polaritäten zusammen: Kargheit-Üppigkeit, Gestalt-Ungestalt, Zerbrechlichkeit-Zerstörungskraft, Reduktion-Komplexität, Archaik-Fortschritt, Umfangensein-Ausgesperrtsein, Nähe-Ferne, Innen-Aussen, Körperlichkeit-Vergeistigung, Bedeutung-Rätsel. Kindermund Wer das Stück zu beschreiben versucht, produziert über kurz oder lang Dramaturgenprosa, webt selber weiter an der Schleppe des Grosswerks, die er so gerne abschneiden möchte. Denn das schleckt keine mythologische Geiss hinweg, und es kotzt es kein Titan wieder aus: Der «Prometeo» ist und bleibt schwer verständlich und vollkommen unverdaulich wie der Stein, welchen die Schwestergattin Rhea dem Kronos anstelle seines Sohnes Zeus zu fressen gab. Da kann ein Herr Wilson oder ein Herr von Peter was auch immer inszenieren oder nicht inszenieren, in Riesenhallen oder intimen Globen, es gilt zunächst einmal zweieinhalb Stunden teilweise gröbstens hässlicher und teilweise eben auch banal kitschiger Klänge zu ertragen, welche immer gleich und entwicklungslos auf den willigen Hörer einstürzen. Leere Quinten hat man irgendeinmal zur Genüge gehört, mal schön, mal weniger schön intoniert vom Chor des Luzerner Theaters, ob brüsken Bläserclustern ist man mit der Zeit nicht mehr aufgeschreckt, und dem hundertsten erstickten Streichergezwitscher lauschte man möglicherweise nicht mehr so intensiv nach. Manche Leute lagen auf Matratzen und dämmerten in einer Art Halbschlaf. Für sie war die Darbietung möglicherweise am erträglichsten. Bei dieser Rezeptionshaltung aber könnte mit Verlaub auch irgendwelche Welt- oder Liftmusik, irgendein Klangteppich von Jean-Michel Jarre oder DJ Gaga erklingen, eine musique d’ameublement. Wer nicht lag und döste, benutzte gern die «Gebrauchsanweisung» zur Hörerfahrung, welche erfreulicherweise auslag. Sie informiert über die Möglichkeit von Positionswechseln in den Pausen des Abends. Bei offenen Türen war ein Positionswechsel auch ins Foyer möglich und nach gebührlichem Chill-Out zu leiser Nono-Musik und auf die Foyer-Wände projizierten Cacciari-Texten von dort ins Freie. «Komm, ins Offene, Freund!» (Hölderlin).   Das Werk – so reflektierte man im Sonnenlicht – bleibt fremd. Es steht seiner eigenen Entmystifizierung im Weg. Vielleicht ist es nicht zu retten. Und der Verdacht steht im Raum, dass irgendwann in der andächtigen Stille eine Kinderstimme erklingt, die meint, dass der Kaiser ja gar keine Kleider anhabe.  

Luzerner Theater: Prometeo. Eine Tragödie des Hörens von Luigi Nono Weitere Aufführungen: 12.09. / 15.09. / 18.09. / 24.09. / 30.09. / 29.09. / 08.10. / 09.10. / 15.10.   Musikalische Leitung: Clemens Heil, Dirigent II: Matilda Hofmann, Joachim Enders Szenische Einrichtung: Benedikt von Peter Bühne: Natascha von Steiger Kostüme: Ulrike Scheiderer, Andrea Pillen Video: Bert Zander Licht: David Hedinger Einstudierung Chor: Mark Daver Sängerinnen, Sänger, Sprecherin, Chor des Luzerner Theaters, Ensemble Experimental, Experimentalstudio des SWR, Luzerner Sinfonieorchester