Träume, Illusionen und Realitäten

KKL Luzern, 31.08.2019: Der «artiste étoile» des diesjährigen Lucerne Festivals heisst Leonidas Kavakos. Der griechische Geiger trat letztes Wochenende mit dem Mariinsky Orchestra im KKL auf. Unter der Leitung von Valery Gergiev kreierte das Orchester einen Albtraum und eine Meisterleistung zugleich.

Bilder: Priska Ketterer

Das Lucerne Festival bot am vergangenen Samstag ein Programm, das sich ganz in ihr diesjähriges Motto «Macht» einfügte. Bei genauerer Betrachtung der chronologischen Werkreihenfolge zeigt sich nämlich ein leicht übersehbares Detail: Die gespielten Werke entstanden alle während und kurz nach der Lebenszeit des russischen Diktators Josef Stalin.

Die Konstellation der Werke zeigt ihre aktuelle, politische Dimension: Die Begegnung des russischen Orchesters mit der französischen Musik erinnert an das Treffen des französischen Staatspräsidenten mit Kremlchef Wladimir Putin im vergangenen Monat. Ob diese Gedanken für die Programmgestaltung von Bedeutung waren, sei dahingestellt. Der Abend des «artiste étoile» im KKL Luzern versprach auf jeden Fall, besonders zu werden.

Die Macht der Querflöte

Als der Moskauer Dirigent Valery Gergiev die Bühne betrat, verbeugte er sich schwungvoll vor der Zuhörerschaft und schüttelte dem Konzertmeister die Hand so kräftig, dass dessen graue Lockenpracht zu hüpfen begann. Er drehte dem Saal den Rücken zu und hob die Arme in die Richtung des Flötisten. Nach einem endlos wirkenden Moment der Stille und der Spannung holte seine Hand zum ersten Schlag aus.

Valery Gergiev

Die Macht der Querflöte in Claude Debussys poetischem «Prélude à l’après-midi d‘un faune» ist nicht zu unterschätzen. Der anspruchsvolle Beginn wirkte nervös und gehemmt. Der geerdete Klang der Oboistin vermochte diese Unruhe jedoch schliesslich mehr als ausreichend zu kompensieren. Die klangliche Traumwelt, in welche das Publikum entführt werden sollte, bestand aus langen Phrasen, mit denen sich Gergiev auf eine Gratwanderung zwischen innerlicher Anspannung und Langatmigkeit begab.

Mit Präzision zum Feuerwerk

Dann betrat der griechische Geigenvirtuose Leonidas Kavakos die Bühne. Sein elegantes Spiel schaffte es unauffällig aus dem Orchesterteppich heraus zu brillieren und ein paar Takte später wieder darin zu verschwinden. Die nordische Kälte von Sibelius’ Serenade in g-Moll wurde durch die schmelzende Wärme der russischen Spielweise aufgetaut. Die spannende Mischung weckte die unterschiedlichsten Reaktionen im Publikum.

Mariinsky Orchestra

Kavakos blühte in den heiteren Passagen auf, suchte den Blickkontakt mit seinem Publikum mit neckisch nach oben gezogenem Mundwinkel. Die Striche wirkten bei Chaussons «Poème» wie ausgemessen, jeder Millimeter des Bogens wurde ausgenutzt, um verschiedenste Klangfarben zu erzeugen. Die virtuosen Läufe meisterte der Geiger mit einer Präzision und einer Leichtigkeit, die einem den Atem raubte. Die Orchesterbegleitung umrahmte dieses solistische Gedicht mit dem Charme, den das Mariinsky Orchester auszeichnet.

Als Kavakos sein Feuerwerk mit Ravels «Tzigane» zündete, war die Begeisterung des Publikums nicht mehr zu bremsen. Umso grösser war die Enttäuschung über den Ausfall der erhofften Zugabe. Lange währte sie jedoch nicht, da der zweite Teil des Konzerts ein weiteres Meisterwerk des 20. Jahrhunderts versprach: Dmitri Schostakowitschs Zehnte Sinfonie. Eine Reise, die knapp 70 Jahre in die Vergangenheit in den Osten Europas führt, mitten in die Regentschaft Josef Stalins. Die herrschende Angst, Heuchelei, Unterdrückung und weitere verstörende Emotionen sind in dem Stück zu spüren. Zeitweise reizte das Orchester mit brutalen, grimassenhaft verzerrten Klängen seine sportlichen Grenzen aus. Das musikalische Portrait des damaligen Diktators ist ein Albtraum und ein Ausdruck der Genialität Schostakowitschs zugleich.

Lucerne Festival: Sommer-Festival
Bis SO 15. September
Diverse Orte, Luzern

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