Thank you Mister Boulez!

Mit dem letzten Sinfoniekonzert im grossen Saal ist die Lucerne Festival Academy 09 am 10. September zu Ende gegangen. Und wie.

Wer Pierre Boulez je in einer Orchesterprobe erlebt hat, der weiss: Dieser kleine Mann, der so unscheinbar ans Probepult schlurft, kann führen. Und er tut es auch. Leidet das halbe Orchester unter Jetlag? Tennisellbogen? Sonstigen Wehwehchen? Wen kümmert’s! Wer hier mitspielt, muss liefern, und zwar zu hundert Prozent. Als Erstes bemängelt der 84-jährige Dirigent bei seinen MusikerInnen denn auch das seiner Meinung nach viel zu langsame Reaktionsvermögen auf seine Anweisungen. (Die Orchestermitgleider sind im Durchschnitt  wohl um die sechzig Jahre jünger als der Meister). Als zweites ärgert er sich, empört vom Englischen ins Französisch zurückfallend, über die mangelnde Texttreue. Pierre Boulez scheint nie zu ermüden und lässt sich durch nichts und niemanden von der Arbeit ablenken. Für Sekundenbruchteile geht zwar ein erfreutes Blitzen durch seine Augen, als er die hübsche Flötistin in der ersten Reihe erblickt, und hin und wieder fällt sogar ein geistreiches Witzchen. Doch vor allem wird hier zielstrebig an der Musik gefeilt. Die Resultate dieser Arbeit sind bemerkenswert. Vor allem im zweiten Stück des ersten Programmteils, den «Notations» von Pierre Boulez, präsentierte sich das Orchester der Festival Academy als engagierter, geschlossener Klangkörper. Klanglich ungeheuer satt und reich, trieben die Musiker unter Boulez jede musikalische Geste der fünf kurzen Stücke auf die Spitze. Das Ergebnis war von solch packender Expressivität, dass das Publikum dem Orchester bereits vor der Pause eine Zugabe abverlangte – es bekam sie in Form der dritten, wildesten Notation. [youtube]http://www.youtube.com/watch?v=8WQ9F8W3wKA[/youtube] Den «Notations» vorangegangen waren im ersten Programmteil die «Jeux» von Claude Debussy. Das Spätwerk des französischen Impressionisten (Debussy schrieb die «Jeux» fünf Jahre vor seinem Tod 1918) zeigt eindrücklich auf, wie weit der Impressionismus vor allem klanglich schon 1913 ging, und wie nahe dieses Spätwerk beispielsweise dem (gestern vom selben Orchester gespielten) «Serendib» von Tristan Murail ist; ein fast hundert Jahre jüngeres Stück. Im zweiten Programmteil nach der Pause wurde Luciano Berios «Sinfonia» für acht Stimmen und Orchester aufgeführt. Diese schrille Collage verschiedener Texte und Musikfragmente über einer teils präsenten, teils von anderen Ereignissen gänzlich überdeckten Mahler-Sinfonie zählt als Schlüsselwerk der musikalischen Postmoderne. Sphärenklänge – nicht luzid wie bei Debussy, sondern erschütternd und verstörend – und an Choral erinnernde Stimmpassagen wechseln sich ab mit greller Showkulisse. Im dritten Satz stellt der Tenor sogar die acht Sänger und Sängerinnen mit Namen vor, wie dies bei Jazz-Combos üblich ist. Der Gag endet mit den Worten «Thank you, Mister Boulez» – dieser Text steht tatsächlich genau so in der Partitur, aber heute trifft er ganz besonders zu. Das Publikum dankt Pierre Boulez das letzte Konzert der diesjährigen Festival Academy auf seine Weise mit einem fünfzehnminütigen Applaus. Von Hereinschlurfen kann jetzt keine Rede mehr sein, der Gang des Dirigenten ist auf einmal fast jugendlich und sein Gesicht wirkt plötzlich auf einen Schlag verjüngt. Man kann nur hoffen, Pierre Boulez nächsten Sommer genauso vital und tatendurstig anzutreffen – Thank you, Mister Boulez!