Surreale dada-avantgardistische Ready-Made Musik

Industriestrasse 9, SA 19. April 2014: Der reinkarnierte Geist der französischen Konzeptkunstkoryphäe Marcel Duchamp schwebte gestern durch die Säulenhalle des Industrie-Kellers. Eine Osterkapelle aus Genf frönte  zahlreichen musikalischen Auswüchsen.

Mittlerweile weiss praktisch jeder, dass wenn im Keller in der Industriestrasse 9 etwas auf die 21 Uhr programmiert ist, man sich mindestens noch ein Stunde an der Bar oder im Innenhof verweilt. Dafür weiss man aber auch, dass einem stets exklusive Musikerlebnisse fernab von Mainstream und Chartplatzierungen geboten werden. Heute auf dem Speiseplan: Orchestre Tout Puissant Marcel Duchamp. Fast noch länger als der Bandname ist die Eigenbezeichnung des Musikgenres, wenn es dies überhaupt zu definieren gibt. Afropunkpopexperimentaljazz spielen die vier Musiker und zwei Musikerinnen, die aus Ländern wie Schweiz, Frankreich oder Belgien stammen und Genève zu ihrem Hauptquartier auserkoren haben. Der Truppe scheint die alternative Konzertkultur in Luzern am Herzen zu liegen, haben sie doch bereits Auftritte im Hammer in Littau oder der altehrwürdigen Frigorex hinter sich. Ursprünglich aus der freien Improszene entstanden, orientiert sich das OTPMD live nachwievor freigeistiger Musikkomposition, hat aber dennoch mit ihrem Drittling Rotorotor ein brandneues, vor zwei Wochen erschienenes Album mit im Gepäck. Das Cover erinnert unweigerlich an die Rotoreliefs von Marcel Duchamp (und den tollen Begriff Palindrom). Farbenfrohe Kreisel, die in Bewegung versetzt eine optische Sinnestäuschung suggerieren. Von Konzertbeginn an haben es die Musiker jedoch mehr auf eine akustische Sinneserweiterung abgesehen.

Slide, der Eröffnungssong, kommt sehr eingängig mit Marimba- und Posaunenklänge daher, steigert sich mitunter des Gesangs zu einem karibisch anmutenden Anheizer. Weiter geht es mit treibender Perkussion und solidem Kontrabass- und Gitarrenspiel zwischen klar definierter Rhythmik in Kombination mit frei-improvisierten Zwischenrufen von Violine, Posaune oder den etlichen Gegenständen für weitere Tonproduktionen. (Ja, auch ein grunzendes Plastikschwein!). Somit weiss man nie genau, was einem in den nächsten 30 Sekunden alles erwarten wird und steht als Zuhörer permanent unter dem Überraschungseffekt. Das Gespielte wurde während dem Konzertverlauf immer obsessiver und übertrug sich sichtlich auf das Publikum, was das karfreitag’sche Tanzverbot im Nun verstreichen liess. Merkwürdig, schräg, atypisch treffen das Musikalisch gebotene gleichermassen wie rhythmisch, tanzbar und einnehmend. Die vielen Überlagerungen der Instrumente liessen innert Sekundenbruchteilen Free-Jazz zu Progressiv Rock mutieren oder machten aus einer sanften Popballade ein finales Punkmassaker. Trotz der mannigfaltigen Zusammenführung unterschiedlicher Musikrichtungen, eine gewisse Homogenität (v.a. über die Rhythmik) wurde gewährleistet. Kurz gesagt: es gab praktisch alles, was die Musikkiste zu bieten hat und das wohl in ihrer rohsten Form. Auch wenn manchmal die Musik bisschen arg laut aus den Boxen dröhnte und die Sängerinnenstimme ab und zu über das Ziel hinausschoss, den Leuten gefiel der wortkarge (spricht in Luzern eigentlich niemand Französisch?) Auftritt der bunten Truppe, was mit frenetischem Applaus nach jedem Stück belegt wurde. So war es kein Wunder, dass nach der Zugabe eine zweite Zugabe folgte und aus dem letzten Song ein allerletzter und ein noch letzterer folgte. Und wir freuen uns natürlich schon auf den nächsten Besuch. Definitiv eine sonderbare Entdeckung!

OTPMD sind: Vincent Bertholet (Bass), Liz Moscarola (Stimme, Violine), Mathias Forge (Posaune), Wilf Plum (Drums), Maël Salètes (Gitarre), Aida Diop (Marimba)