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Luzerner Neustadt, 04.05.2020: Maja Bader, Leonhard Dering, Linda Egli und Joachim Müller-Crépon sehnen sich nach Konzerten. Am Montag wurden so kurzerhand zwei Balkone zu ihrer Bühne und ein Innenhof zum Konzertsaal.

Livemusik ist zurzeit vor allem über digitale Live-Streams, auf Balkonen und in Innenhöfen zu hören. Dabei scheinen Blasinstrumente und Gitarren zu dominieren. Erstere, vermutlich, weil sie eine grosse Tragweite haben und schon ohnehin vorzugsweise im öffentlichen Raum gespielt werden. Letztere sind wohl einfach weit verbreitet.

Dass das alles aber auch anders geht, haben am vergangenen Montag vier junge Musikschaffende vorgeführt. Mit Maja Bader, Leonhard Dering, Linda Egli und Joachim Müller-Crépon traten gestandene Kunstpersönlichkeiten auf ihre eigene Bühne: Sie interpretierten elf Werke auf zwei Balkonen. In den Hauseingängen der Blockrandüberbauung zwischen Bundes-, Neustadt-, Mythen- und Bleicherstrasse – dem Café-Alfred-Block – war die Nachbarschaft im Vorfeld auf handgeschriebenen Konzertplakaten informiert und eingeladen worden.

Einladung im Innenhof

Bereits die Zusammensetzung des Quartetts ist bemerkenswert unkonventionell: Mit Sopran, Klavier, Violine und Cello schwingt es irgendwo zwischen Kammermusik und Mikro-Orchester. Und ja, richtig, dieses Ensemble spielt klassische Musik, und zwar professionell.

Leonhard Dering und Joachim Müller-Crépon eröffneten das Konzert mit einer warm klingenden Interpretation von Rachmaninows «Vocalise» op. 34 Nr. 14. Daneben bildeten hebräische Melodien einen der Charakterzüge des Programms. So liess Baders Stimme das «Kaddisch»  – ein hebräisches Totengebet – von Ravel nicht klagend, sondern sehnsüchtig erklingen.

Offenbar weckten diese melancholischen Stücke bei den Zuhörenden eine Sehnsucht nach echten Konzerten. Das Publikum lauschte den Klängen ehrfurchtsvoll. Die Musiker*innen hatten bei der Konzeption klare Kriterien: Musikwerke, welche die Fähigkeit haben, gleichzeitig spontan zu begeistern und zu berühren, egal ob Klassik- oder Heavy Metal Fan*in, und dabei doch tiefgründig auf verschiedenen Ebenen hörbar sind. Entsprechend sind elektrisierende Rhythmen aus den irischen Liedern von Beethoven zu hören. Das grosse Finale bildeten jedoch die barocken Melodien und Gesänge von Monteverdi und Sartorio. Besonders bei der Arie «Quando voglio» war selbst im fünften Stock zu vernehmen, dass Maja Bader auch in dieser Epoche, die immerhin 400 Jahre zurückliegt, zu Hause ist. Ein weiteres Kriterium war gewiss: Das Ensemble spielt, was ihm Spass macht.

Es entstand eine Klangcollage aus dem jeweiligen Musikstück, Vogelgezwitscher, einem klirrenden Teller, gelegentlich unterbrochen von einer zischenden Getränkedose, die Innenhof-Variante des Ricolas gegen den trockenen Hals.

Maja Bader, die selbst in der Überbauung wohnt, hatte schon länger die Idee, den geschlossenen Innenhof musikalisch zu nutzen. Die Sehnsucht ihres Umfelds, wieder einmal Musik zu erleben und ihre eigene Sehnsucht, wieder zu musizieren, haben die zuvor eher vage Idee zur Konkretion gebracht. Mit Leonhard Dering, Joachim Müller-Crépon und  Linda Egli verbinden sie frühere gemeinsame Projekte (etwa «Ê KÔ DÔ – mon âme» im Neubad). Streams kamen für sie nicht in Frage. Dass Dering sich in Luzern aufhält und überhaupt mitmachen konnte, ist wiederum eine Folge der Pandemiemassnahmen. Nach einem Auftritt kurz vor den Grenzschliessungen blieb der deutsch-russische Komponist vor Ort und konnte die Stücke arrangieren.

Diese Konzertinitiative hat in der Nachbarschaft den Wunsch nach bildschirmfreier, analoger Kultur erfüllt. Die Anwohner liessen die Laptops stehen und richteten sich für das über 60-minütige Konzert ein. Selbst die berüchtigten Nordwandbalkone waren besetzt. Obwohl die Akustik gut ist und die Architektur Vergleiche mit Amphitheatern zulässt, herrschten natürlich nicht die Laborbedingungen einer Konzertbühne vor. Entsprechend war von den weiter weg gelegen Balkonen aus der Text nicht verständlich. Es entstand eine Klangcollage aus dem jeweiligen Musikstück, Vogelgezwitscher, einem klirrenden Teller, gelegentlich unterbrochen von einer zischenden Getränkedose, die Innenhof-Variante des Ricolas gegen den trockenen Hals.

Die Musikschaffenden stört das nicht. Im Gegenteil, sie liessen sich von der grossen Resonanz und dem euphorischen Applaus mitreissen. So sehr, dass sie überlegen, ein weiteres Konzert im privat-öffentlichen Zwischenraum der Welt der Balkone zu veranstalten.